Je länger, je lieber - Roman
1
Cadaqués, 1928
Der Sommer an der spanischen Küste war beinahe vorüber. Das blond gelockte Mädchen saß im Matrosenanzug vor einer großen Staffelei. Den Pinsel in der einen, die Farbpalette in der anderen Hand, blickte Clara konzentriert auf die weiße Leinwand. Gleich würde sich das Bild zeigen, das von ihr gemalt werden wollte. So geschah es immer. Es tauchte aus dem Nichts auf und breitete sich wie ein farbiger Schimmer über die Leinwand aus, den nur sie sehen konnte. Ihre Aufgabe war es, die Linien und Flächen für alle anderen sichtbar zu machen. Darin bestand ihr ganzes Talent. Sie hatte keine Ahnung, wie dieser seltsame Zauber funktionierte. Er begleitete sie seit jeher, und darum verbrachte sie nun schon den vierten Sommer in Folge bei Emilio Casados, dem eigentlichen Herrscher über das Atelier.
Er war ein berühmter Maler, der ihr das nötige Handwerk beibringen sollte. Dafür zahlten ihre Eltern, die seine Kunsthändler in Deutschland waren, viel Geld. Denn aus dem blond gelockten Mädchen sollte ihrem Wunsch nach ebenfalls eine große Künstlerin werden.
Clara hatte nicht viel Zeit. Ihr strenger Lehrer war mit seiner Frau Gala und seiner Tochter Daria hinunter in die Stadt gefahren, um ein paar Besorgungen fürs Wochenende zu machen. Seine Abwesenheit wollte sie verbotenerweise nutzen, um ihr erstes Gemälde ohne seine Anleitung zu malen. Schon am Nachmittag würde Casado zurück sein. Und es war nicht klar, wie er reagieren würde, wenn er sie hier in seinem Heiligtum erwischte. Obwohl er große Stücke auf ihr Können hielt, war er auch nach vier Sommern noch immer der Auffassung, dass die Zeit längst nicht reif war für ein eigenes Gemälde. Clara sollte skizzieren und zeichnen, nicht mit Farbe arbeiten. Das wollte er auf den nächsten Sommer verschieben. Dabei kribbelte es ihr so sehr in den Fingern, in ihren Eingeweiden. Es war unmöglich, das farbige Bild noch länger zurückzuhalten. Sie wollte es für Daria zum Abschied malen, ihre große Schwester im Geiste. Ihr Idol. Casados Tochter, drei Jahre älter als Clara, war schön, wild und ungestüm. Sie war anziehend und weiblich. Sie war genau das Gegenteil von Clara, die noch als Dreizehnjährige in Matrosenanzügen herumlief und ihre blonden Locken kurz trug. Und doch verband die beiden Mädchen eine enge Freundschaft, in der sie jedes Geheimnis miteinander teilten.
Aus den Augenwinkeln sah Clara aus den Atelierfenstern hinaus aufs Meer, das in der Brise des jungen Tages glitzerte. Die Möwen kreischten über der Bucht, in deren sanften Wellen sich die Segelboote wiegten. Dort draußen sprangen Daria und sie in den Abendstunden über die Klippen und schworen sich, wenn eine von ihnen den steilen Fels hinunterstürzte, würde die andere ihr nachspringen, um sie zu retten. Sie spielten viele dieser gefährlichen Spiele, bei denen sich die eine für die andere in der Fantasie opfern musste.
»Ich bin verliebt«, hatte Daria ihr neulich ins Ohr geflüstert, als sie in der sengenden Mittagshitze unter einem umgedrehten Ruderboot am Strand gelegen hatten. Ganz dicht war sie in ihrem Badeanzug an Clara herangerückt und hatte sie mit leuchtenden Augen angesehen. »Niemand darf jemals davon erfahren«, hatte sie kaum hörbar geflüstert. »Aber er liebt mich auch!«
»Ist es Jacques?«, hatte Clara beunruhigt gefragt. Der hübsche Sohn des Weinbauern Aurelio Barreto, der einmal in der Woche mit dem Pferdekarren kam, um Casado den Wein zu bringen, war für sie zu einem Freund geworden. Sobald er die Flaschen in den Keller hinuntergetragen hatte, plauderten er und Clara im Schatten der Olivenbäume und brachten, im Haus sitzend, einander ihre Sprachen bei. Jacques, mit den dunklen Locken und den grünen Augen machte erstaunliche Fortschritte, und mit jedem Wort, das sie einander lehrten, kamen sie sich näher, bis sich ihre Knie beinahe berührten.
Doch zur Auflösung von Darias Geheimnis war es an jenem Mittag nicht mehr gekommen. Gala hatte von den Felsen zu ihnen nach unten in die Bucht gerufen. Später hatte Daria plötzlich keine Lust mehr gehabt, Clara zu verraten, in wen sie heimlich verliebt war. Alles Betteln hatte nichts genutzt. Wenn es nur nicht Jacques war! Diese Vorstellung versetzte Clara augenblicklich einen erneuten Stich. Wieso teilte ihre Freundin jedes Geheimnis mit ihr – nur nicht dieses? Weil Daria wusste, was Clara insgeheim für Jacques empfand? Clara holte tief Luft. Nein! Daria würde ihr das niemals antun. Sie
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