Der Glaspavillon
Kindern, und er antwortete, sie schliefen längst, ganz oben unterm Dach, ich brauchte mir ihretwegen keine Sorgen zu machen. Als er das Licht anknipste, war ich geblendet. Nach der Dunkelheit draußen, dem heimeligen Dämmerlicht in der Eingangs-halle und im Treppenhaus schien die plötzliche Helligkeit kalt und fordernd. Ich legte mich auf die Couch, Alex setzte sich neben mich.
»Martha ist tot«, sagte ich.
Ich holte tief und vorsichtig Luft, wie ich es manchmal auf Seereisen machte, um den Brechreiz zu unterdrücken.
Alex ließ sich lange Zeit, ehe er etwas sagte. Dann sprach er sanft, aber entschlossen.
»Ich möchte, daß Sie wieder an den Tag zurückdenken, an dem Natalie verschwunden ist«, sagte er.
Das überstieg meine Kräfte. »Das kann ich nicht, Alex, wirklich.«
Plötzlich kniete er neben mir. Ich spürte seinen warmen Atem an meiner Wange, seine Hand lag auf meinem Haar.
»Jane, eine Frau, die Sie sehr geliebt haben, ist heute gestorben. Ich weiß, wie Ihnen zumute ist. Aber Sie sind nicht zu mir gekommen, um sich trösten zu lassen. Sie wollen diese Gefühlsbewegung ausnutzen. Habe ich nicht recht?«
»Keine Ahnung, was ich will«, erwiderte ich, aber ich wußte, daß mein Widerstand gebrochen war.
»Dann lassen Sie uns anfangen«, meinte Alex.
Wieder sprach er die leisen, beruhigenden Worte, die jetzt ein vertrauter Zauberspruch waren und wie gedämpfte Musik aus einem entlegenen Zimmer zu mir drangen.
Als sich mein Körper entspannte, erfaßte mich eine ungeheure Erleichterung, und schon war ich dort. Das Moos in meinem Rücken, Zweige und Kieselsteine unter meinen Schenkeln. Als ich aufstand und mein Kleid ausklopfte, spürte ich die Abdrücke auf meiner Haut, wie von einer Bastmatte. Die Sonne war hinter dem Cree’s Top verschwunden, der Col lag im Schatten, seine unregelmäßig dunkle Oberfläche kräuselte sich träge. Die zerknüllten Papierfetzen waren verschwunden und mit ihnen die kindischen Phantasien, die sie verkörperten. Das alles war vorüber.
Ich drehte mich um; der Wind ließ mich frösteln, und vereinzelte Tropfen, die mir ins Gesicht wehten, kündeten Regen an. Das schwarze Kleid preßte sich gegen meinen Körper, meinen sexuell erwachten Körper, dessen Brüste und Schenkel nun nicht mehr mir allein gehörten. Eine kühle Entschlossenheit erfüllte mich. Vor mir lag Cree’s Top, rechts neben mir war das Flußufer. Ich rannte den schmalen, steilen Pfad empor, hinein in den Wald und durch die Ginsterbüsche hindurch. Ich hörte Geräusche, nicht von Vögeln, nicht vom Wind oder vom Fluß –
sondern ein seltsames Pfeifen und Stöhnen. Ich achtete nicht darauf. Ich rannte, bis ich mein eigenes Keuchen hörte und den Schmerz in meiner eingeschnürten Brust spürte. Die Bäume wirkten auf mich wie tot, die Büsche nackt, der Fluß rechts unter mir braun und müde. Doch meine Pflicht war es, nicht nachzudenken, sondern einfach weiterzugehen. Zweige zerkratzten mein Gesicht, Dornen-ranken griffen nach meinem Kleid. Jetzt hatte ich die Bergkuppe erreicht, rannte weiter, auf der anderen Seite bergab. Auf Natalies Seite. Durch die Büsche vor mir sah ich, wie sich etwas bewegte, schemenhaft tauchten Gestalten zwischen den Ästen auf, ich hörte Schreie, unverständliches Rufen. Doch es gab kein Zurück mehr.
Ich lief weiter, bahnte mir einen Weg durchs Gebüsch und hinaus ins helle Sonnenlicht.
Im ersten Moment war ich von der Sonne geblendet und sah weiter nichts als golden gefleckte Explosionen. Ich kniff die Augen zusammen und zwang mich genau hinzuschauen. Die Dinge nahmen Gestalt an, und ich nahm mehrere Dinge gleichzeitig wahr. Ein Mädchen lag im Gras. Sie schrie. Natalie. Dunkle Haare, lodernde Augen. Sie wurde zu Boden gedrückt. Über sie gebeugt ein Mann, die Hände um Natalies Hals. Sie schlug mit Armen und Beinen um sich. Vergeblich. Dann wurde die Bewegung langsamer und erstarb schließlich ganz. Ich wollte schreien, aber mein Mund war voller Asche. Ich wollte weglaufen, aber meine Füße waren aus Blei. Das Mädchen wurde losgelassen und blieb reglos liegen. Der Mann wandte mir den Rücken zu. Er war dunkelhaarig, nicht grau. Er war schlank, nicht untersetzt. Er war glatt-rasiert, nicht bärtig. Aber es bestand kein Zweifel. Es war Alan. Plötzlich brach es aus mir heraus, ich schrie und schrie. Jemand packte mich. Es war Alex. Er drückte mich an sich und flüsterte mir beruhigend ins Ohr. Ich richtete mich auf. Meine Haare klebten mir im Gesicht. Ich war
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