Der Glaspavillon
meinen Kindern weiß Gott was angetan. Ich hatte meine eigene psychische Gesundheit ruiniert. Ich hatte entsetzliche Dinge aufgedeckt. Schon jetzt waren Menschen, die ich liebte, entsetzt über das, was ich tat. In welche Katastrophe würde ich jetzt die Familie stoßen, die mir mehr bedeutete als alles andere auf der Welt? Der Wind trieb mir stechende Regentropfen ins Gesicht. Das Leben war ein Alptraum geworden.
Jetzt ging ich an Geschäften vorüber. Ein Mann mit langen verfilzten Haaren saß neben einem räudig und elend aussehenden Hund undefinierbarer Rasse vor dem Supermarkt und streckte mir die Hand entgegen. So endeten Menschen, die sich aus Familie, Gesellschaft und Arbeit zurückzogen. Ich holte eine Münze aus meinem Portemonnaie und gab sie dem Mann. Ganz fest klemmte ich sie zwischen zwei Finger, damit sie nicht hinunterfiel.
Mir war klar, daß ich mein eigenes Leid auf die Welt übertrug – wie jämmerlich es manchen ihrer Bewohner auch ergehen mochte –, und deshalb überraschte es mich auch nicht sonderlich, als ich vor einem Fernsehgeschäft stand und auf den flimmernden Bildschirmen Alan erblickte, der hinter der Schaufensterscheibe stumme Mundbewegungen in meine Richtung machte. Hier war der Patriarch persönlich, und er verteidigte sich mit Worten, die ich nicht verstehen konnte. Einen Augenblick glaubte ich, nun endgültig den Verstand verloren zu haben. Die Realität hätte sich mit meiner Erinnerung und meinen Alpträumen vermischt, und Alan hätte mich besiegt, vernichtend und unwiderruflich. Dann plötzlich fiel es mir ein.
»Ach du Scheiße!«
Ich blickte benommen um mich, war aber endlich aus meiner Trance erwacht. Als ich die gelbe Leuchtschrift eines freien Taxis entdeckte, winkte ich den Wagen zu mir. Ich sagte dem Fahrer eine Adresse in Westbourne Grove. Während wir Swiss Cottage und Paddington durchquerten, hielt ich mein Gesicht direkt in den bitter-kalten Wind, der zum offenen Fenster hereinblies.
»Alles in Ordnung, meine Liebe?« erkundigte sich der Taxifahrer besorgt.
Ich nickte, denn ich war nicht sicher, ob ich einen zusammenhängenden Satz herausbringen würde. Als ich an die Tür klopfte, ließ Erica mich herein.
»Es ist fast vorbei«, sagte sie. »Möchtest du was zu trinken?«
»Nur Wasser«, antwortete ich, während ich ihr die Treppe hinauf folgte.
»Trinkst du nicht mehr?«
»Im Gegenteil.«
Sie führte mich in ein dunkles Zimmer. Die einzige Lichtquelle war ein riesiger Fernsehbildschirm; auf den Stühlen erkannte ich schemenhafte Silhouetten. Ich suchte mir ein Plätzchen auf dem Fußboden. Erica reichte mir mein Wasser, und ich hielt mir das feuchte Glas an die Stirn. Da ich gedacht hatte, Pauls Dokumentation über unsere Familie wäre eine Abfolge von Interviews, war ich auf das, was ich nun sah, ganz und gar nicht vorbereitet.
Als ich mich endlich konzentrieren konnte, erschien ein Foto von Natalie auf dem Bildschirm, die undeutliche Vergrößerung eines Klassenfotos, ein Bild, das überhaupt nicht typisch für sie war. Jemand redete vom verloren-gegangenen Geist der sechziger Jahre, wahrscheinlich Jonah, vielleicht aber auch Fred. Die Kamera schwenkte von Natalie zu einem Bild von Stead, das vermutlich von Chantry’s Hill aus aufgenommen worden war. Zuerst dachte ich, es wäre ebenfalls ein Foto, aber ein leichtes Zittern der Kamera, eine kaum wahrnehmbare Bewegung der Blätter, ein Changieren des Lichts zeigte, daß gefilmt wurde. Die Kamera wanderte weiter, bis sie bei Paul angelangt war. Er blickte auf das Haus hinunter, mit dem Rücken zur Kamera. Dann wandte er sein Gesicht direkt der Kamera zu und sprach im Gehen mit ihr wie mit einem Freund. Er war eben ein echter Profi.
Er redete über die Familie, nannte sie die Heimat eines Menschen, den Ort, der einem stets Zuflucht bietet. Er sprach über die Familie als Symbol der Zuneigung und als Symbol der Gesellschaft mit all ihren Bindungen und Verpflichtungen. Umnebelt wie ich war, fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren, aber ich bekam immerhin mit, daß er eine Geschichte aus seiner goldenen Kindheit erzählte. Als er fertig war, blieb er stehen. Die Kamera fuhr zurück, und man sah, daß er die Stelle erreicht hatte, an der Natalies Leiche gefunden worden war. Die Grube war noch offen; Paul machte ein gefühlvolles Gesicht. Die Kamera entfernte sich immer weiter, bis schließlich die ganze Szenerie im Bild war: Ein nachdenklicher Paul spähte in die Grube, neben ihm Stead im Schein der
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