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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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gehäutet, mein Innerstes war nach außen gekehrt. Ich konnte Alex gerade noch rechtzeitig sagen, daß ich mich übergeben mußte, und zwar sofort. Er hielt mir den Papierkorb hin. Ich würgte, und dann kotzte ich alles heraus. Schließlich sank ich auf die Couch zurück, alle viere von mir gestreckt, hilflos, verrotzt, Reste von Erbrochenem auf dem Gesicht, tränenverschmiert, stöhnend, heulend, nach Luft ringend. Erschöpft, vernichtet, voller Entsetzen.
    Dann hörte ich eine vertraute Stimme an meinem Ohr.
    »Sie haben es geschafft, Jane. Alles in Ordnung. Sie sind in Sicherheit.«

    27. KAPITEL
    Ich erwachte in meinem Bett, ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen war. Ach ja, richtig, Alex hatte mich nach Hause gefahren. Hatte ich eine Szene gemacht und seine Kinder erschreckt? Mein Fahrrad mußte noch vor seinem Haus stehen, an eine Parkuhr gekettet. Ich griff nach dem Wecker. Fast zehn Uhr. Morgens oder abends?
    Bestimmt morgens. Wenn es abends wäre, wäre es zwanzig Uhr. Nein, zweiundzwanzig Uhr. Am äußersten Rand meines Bewußtseins lauerte etwas, das ich nicht aufspüren wollte. Trotzdem gab ich mir Mühe, mich zu erinnern. Ich mußte mich beeilen, um noch rechtzeitig aufs Klo zu kommen. Eine Weile hing ich über der Schüssel, aber es kamen nur ein paar heiße, brennende Spritzer.
    Schließlich wusch ich mir den Mund mit einem Waschlappen ab. Ich trug noch immer die Sachen von gestern. Kurz entschlossen ließ ich sie einfach dort fallen, wo ich gerade stand, und stieg unter die Dusche. Erst ganz heißes, dann ganz kaltes Wasser. Danach schlüpfte ich in Jeans und ein altes Cordhemd. Meine Finger zitterten so, daß ich kaum die Knöpfe zumachen konnte. Ich beschloß etwas zu essen und ging hinunter in die Küche. Im Gefrierschrank befanden sich zwei Tüten mit Kaffeebohnen; ich entschied mich für die dunkleren und kochte mir eine große Kanne voll. Nach längerer Suche fand ich ein ungeöffnetes Päckchen Zigaretten in dem Mantel, den ich gestern abend angehabt hatte. Ich trank eine Tasse Kaffee nach der anderen, bis die Kanne leer war, und rauchte die ganze Packung.
    Ein paarmal klingelte das Telefon, und ich hörte Stimmen vom Anrufbeantworter. Duncan, Caspar, mein Vater. Ich würde mich später um sie kümmern. Aber als ich die Stimme von Alex Dermot-Brown hörte, sprang ich auf und nahm den Hörer ab. Er machte sich Sorgen um mich und wollte wissen, ob alles in Ordnung sei und ob ich zu ihm kommen könne. Am besten sofort. Ich versprach ihm, in einer Stunde da zu sein. Draußen war es kalt, aber sonnig. Ich zog einen langen, wallenden Mantel an, band mir einen Schal um, setzte eine Baskenmütze auf und machte mich auf den Weg nach Hampstead Heath.
    Ein böiger Wind blies, und als ich den Gipfel von Kite Hill erreichte, lag mir London zauberhaft klar zu Füßen, sogar die Hügel von Surrey konnte ich am Horizont erkennen. Ich ging bergab, verließ Hampstead Heath beim Parliament Hill und kam am Royal Free Hospital vorüber.
    Claud hatte mir einmal von einem psychisch gestörten Patienten berichtet, der von dem neurotischen Zwang besessen war, die Fenster des Gebäudes zu zählen. Da er nie zweimal hintereinander zum gleichen Ergebnis kam, war es ein endloses Unterfangen.
    Die Dinge, die wir tun, um unserem Leben eine Ordnung zu verleihen. Ich erinnere mich an ein Gedicht über einen Mann, der dabei erwischt wurde, wie er alle Os in der Bibliothek ausmalte. Dachte er an die Os, die er schon ausgemalt hatte, oder mehr an die, die noch ausstanden?
    Es war ein langer Gewaltmarsch, und als ich bei Alex an die Tür klopfte, war ich ganz außer Atem. Daran waren sicher die Zigaretten schuld. Fast hätte ich laut gelacht, als ich mich bei dem Vorsatz ertappte, das Rauchen aufzugeben. Noch nicht. Noch nicht.
    Als die Tür sich öffnete, überraschte, oder besser, überwältigte mich Alex – er nahm mich in die Arme, drückte mich fest an sich und redete tröstend auf mich ein, als wäre ich eins seiner Kinder, das Angst vor der Dunkelheit hatte. Genau das war mein sehnlichster Wunsch. Schließlich ließ er mich wieder los, sein Gesicht wurde ernst, und er fragte mich, ob alles in Ordnung sei.
    »Ich weiß nicht. Ich habe mich mehrmals übergeben, und mir ist immer noch übel. Mein Kopf fühlt sich an, als würde jemand versuchen, ihn mit einer Fahrradpumpe aufzupumpen.«
    Alex lächelte. »Keine Sorge«, meinte er. »Genau das war zu erwarten. Es ist ein ähnlicher Effekt, wie wenn das Fieber zurückgeht.

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