Der Glaspavillon
Stellen Sie sich einfach vor, daß Ihr Körper versucht, das ganze Gift und die Verunreinigungen auszustoßen, die er in einem Vierteljahrhundert aufnehmen mußte. Es ist ein Reinigungsprozeß.«
»Werde ich jetzt verrückt, Alex?«
»Sie werden gesund. Sie entdecken die Qual eines Lebens ohne Selbsttäuschung.«
»Aber Alex, kann das denn wahr sein? Wirklich? Könnte ein Mann wie Alan seine eigene Tochter schwängern?
Und sie ermorden?«
Sanft umschloß Alex mein Gesicht mit den Händen und sah mir in die Augen.
»Sie sind diejenige, die die Schranken durchbrochen und die Lügen entlarvt hat, Jane. Sie haben diese Reise gemacht, Jane. Sagen Sie es mir – halten Sie es für unmöglich, daß er all das getan hat?«
Die Antwort erforderte einen großen Kraftaufwand. Ich trat einen Schritt zurück, und Alex löste seine Hände von meinem Gesicht. Nachdenklich schüttelte ich den Kopf.
»Nein«, antwortete ich kaum hörbar. »Ich glaube nicht, daß es unmöglich ist.«
Ein paar Minuten später lag ich wieder auf der Couch, und Alex saß auf seinem Stuhl. Ich wollte versuchen, die Einzelheiten des Geschehenen zu rekonstruieren, aber Alex verbot es mir. Das konnte alles warten. Statt dessen sprach er sanft auf mich ein, wie er das nun schon so oft getan hatte, und führte mich zurück in meine Erinnerung, zurück zum Schauplatz des Mordes. Während dieser Sitzung und der des nächsten und übernächsten Tages ging er mit mir die Ereignisse mehrmals durch, bis sie sich für mich immer eindeutiger darstellten. Wie beim Fotogra-fieren, wenn man den Apparat schärfer stellt und mit einemmal alle Einzelheiten und Nuancen des Motivs erkennt. Ich sah, wie Natalie sich wehrte, sah, was sie anhatte, angefangen von dem geflochtenen Stirnband bis zu den roten Turnschuhen, die ich immer mit ihr in Zusammenhang bringe. Und ich erkannte Alan, stark und schwer, wie er sie zu Boden drückte, ihren Hals packte, immer fester, bis sie sich nicht mehr regte.
»Hätte ich denn gar nichts tun können?«
»Was denn? Ihr Gedächtnis kam Ihnen zu Hilfe, indem es den Horror des Geschehens ausblendete und Sie auf diese Weise davor schützte. Jetzt haben wir den Schutz-schild durchbrochen.«
Es bedeutete eine ungeheure Anstrengung für mich, alles noch einmal zu durchleben. Das Verbrechen war so lebensecht und gewaltsam und so nah – wahrscheinlich hatte ich mich im Gebüsch versteckt –, daß ich meinte, ich könnte eingreifen, etwas unternehmen, vielleicht wenigstens schreien. Dabei wußte ich ja die ganze Zeit, daß ich nichts unternommen hatte und daß es jetzt jenseits meiner Macht lag – es war nicht mehr zu ändern. Der Schock und der Schmerz ließen nicht nach. Es gelang mir nicht, das Geschehene zu verarbeiten. Ich wurde damit nicht fertig, es gab keine Katharsis, es war nicht möglich, das Leid zu überwinden, sich davon zu lösen. Ich bekam einfach keine Distanz zu den Ereignissen, ich war unfähig, in Ruhe darüber nachzudenken. An manchen Tagen konnte ich nur schluchzen, von Schmerz geknebelt; ich rauchte, statt zu essen, und ich betrank mich allein in meinem Haus.
Ein wenig Selleriesalz in einen Krug, dazu ein paar Prisen schwarzen Pfeffer, drei Spritzer Tabasco, eine Wahnsinnsration Lea and Perrins, der Saft einer halben Zitrone und ein Klecks Tomatenketchup. Man sollte immer mit den billigsten Zutaten beginnen. Wenn man eine ganze Literpackung Tomatensaft verwendet wie ich, braucht man ein großes Glas russischen Wodka.
Schließlich die geheime Zutat: ein halbes Weinglas trockener Sherry. Eine Handvoll Eis in ein breites Glas, und man hat einen hinreichend nahrhaften Drink, der zur Not das Abendessen ersetzt. Zu meiner Stimmung hätte ein Streichquartett von Bartók (aus der mittleren Schaffensperiode) am besten gepaßt, aber statt dessen hörte ich Rigoletto. La donna e mobile. Ich nicht. Ich hatte den Blick in mein Inneres gewagt und war über das, was ich vorfand, entsetzt. Draußen war es kalt und dunkel.
Aber bald würde ich aufbrechen und mich den realen Dingen stellen müssen. Das stand mir als nächstes bevor.
Als ich den letzten verwässerten Rest aus meinem Glas hinuntergekippt hatte, beschloß ich hinauszugehen. Aber alles mußte äußerst sorgsam eingefädelt werden. Es war kalt. Ich zog einen Pullover an. Darüber einen Mantel. Ich setzte eine Mütze auf. Schlüssel und Portemonnaie in die Manteltasche. Die kalte Luft draußen klärte meinen Kopf ein wenig. Ich hatte meine Ehe zerstört. Ich hatte
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