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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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frühen Morgensonne, ein Vogel zwitscherte. Dazu erklang Musik im Stil von Delius, die kräftig anschwoll. Dann kam der Abspann. Jemand knipste das Licht an.
    »Wo bist du gewesen?« Paul stupste mich von hinten.
    »Tut mir leid.«
    »Ich bin froh, daß du wenigstens den Schluß gesehen hast«, sagte er. »Das war eine echte Tour de force.
    Viereinhalb Minuten ohne einen einzigen Schnitt. Ich mußte den ganzen Hügel runtermarschieren und genau in dem Moment unten ankommen, in dem ich mit meinen Erinnerungen fertig war. Das war die größte technische Anforderung, an die ich mich je herangewagt habe. Als ich dann endlich ›Schnitt!‹ rufen konnte, haben sogar die Techniker applaudiert. Aber ich möchte, daß du es dir vollständig ansiehst. Ich lasse dir eine Kassette schicken.«
    »Danke«, sagte ich. »Ich muß jetzt gehen.«
    »Aber du bist doch gerade erst gekommen, Jane. Ich möchte dich gern mit ein paar Leuten bekannt machen.«
    »Ich muß gehen.«

    Da ich nicht mal den Mantel ausgezogen und die Mütze abgenommen hatte, konnte ich einfach die Treppe wieder hinuntergehen und verschwinden. Ich vermutete, daß ich mein ganzes Geld für das Taxi ausgegeben hatte, aber ich schaute nicht nach, sondern ging zu Fuß nach Hause und machte sogar noch einen Umweg durch den Regent’s Park. Ich brauchte anderthalb Stunden, und als ich meine Haustür aufschloß, war ich stocknüchtern.

    28. KAPITEL
    Als ich am nächsten Morgen aufstand, war mir so schwindlig und übel, daß ich mich mehrere Sekunden am Bettrand festhalten und tief Luft holen mußte. Die ganze Nacht hatten mich quälende Träume verfolgt. In dem hohen Spiegel erblickte ich eine alternde, verstörte Frau mit kreidebleichem Gesicht und ungewaschenen Haaren.
    Seit Tagen hatte ich nicht mehr ordentlich gegessen, und in meinem Mund breitete sich ein ekelhaft fauliger Geschmack aus. Vor einer Woche hatte ich Caspar geküßt und gespürt, wie mein Körper zu neuem Leben erwachte.
    Aber diese magere Frau, die mir dort entgegenstarrte, war eine vollkommen andere Person, erschöpft und kränklich, die nur die Schattenseite des Lebens kennengelernt hatte.
    Das Bild von Alans gebücktem Körper wollte einfach nicht verschwinden. Ständig sah ich ihn vor mir, so klar und deutlich wie eh und je. Ich brauchte Alex’ Hilfe nicht mehr. Jetzt war das Monster aus seinem Versteck hervor-gekommen, hinaus ins grelle Licht des Tages. Ich konnte es nicht mehr zurückdrängen. Alles war in meiner Erinnerung haftengeblieben. Ich war Augenzeugin eines Mordes gewesen, und jetzt mußte ich alles neu erleben.
    Ich konnte mir selbst dabei zusehen. Mein Atem ging flach, und schon sah ich, wie sich Alan über Natalie beugte, triumphierend, abstoßend.
    Ich schlüpfte in meinen Morgenmantel und ging in die Küche. Dort mahlte ich Kaffee und steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster. Ich bestrich sie mit Butter und Marmelade, setzte mich an den Tisch und starrte sie an.
    Fünf Minuten später biß ich einmal ab. Dann noch einmal.
    Es fühlte sich an wie Streusand. Ich kaute und schluckte, kaute und schluckte. Wieder überkam mich eine Woge der Übelkeit, kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich sprang auf und rannte ins Badezimmer, wo ich mich übergab, bis mein Hals weh tat und meine Augen brannten.
    Ich ließ die Badewanne vollaufen und schrubbte mich gründlich ab. Und obwohl ich mir minutenlang die Zähne putzte, wollte der Geschmack von Erbrochenem und Panik sich nicht vertreiben lassen. Ich zündete eine Zigarette an und füllte meine Lungen mit Asche. Asche zu Asche.
    Ich zog mir eine schwarze Jeans an und einen schwarzen Pullover mit Polokragen. Dann bürstete ich mir die Haare aus dem Gesicht, setzte mich auf einen Stuhl in der Küche, trank den abgekühlten Kaffee, der grauenhaft schmeckte, und starrte zum Fenster hinaus in den Regen und den verwilderten Garten. Es war neun Uhr, und ich hatte keine Ahnung, wie ich den Rest des Tages hinter mich bringen sollte. Den Rest meines Lebens.
    Schließlich raffte ich mich auf und rief Kim in der Klinik an. Sie war mit einem Patienten beschäftigt, also hinterließ ich eine Nachricht. »Sobald wie möglich«, sagte ich. Meine Stimme war nur ein heiseres Flüstern; wahrscheinlich dachte die Sekretärin, ich läge im Sterben.
    Noch eine Zigarette. Ich hörte, wie die Post durch den Briefschlitz in der Haustür plumpste, aber ich rührte mich nicht. Mein Körper fühlte sich schwer und hohl an.
    Endlich klingelte das

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