Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
besondere Einzelheiten fielen ihm ein, und bald hegte er keinen weiteren Zweifel, der Archidiakonus habe die Zigeunerin entführt. Dennoch hatte seine Achtung vor dem Priester, seine Erkenntlichkeit, seine Liebe und Ergebenheit zu diesem Mann so tiefe Wurzeln geschlagen, daß sie sogar in diesem Augenblick den Krallen der Eifersucht und der Verzweiflung widerstanden.
Als er dachte, der Archidiakonus habe dies getan, verwandelte sich der tödliche, blutige Zorn, den er dadurch gegen jeden andern würde gefühlt haben im Augenblick, wo es sich um Claude Frollo handelte, nur in tieferen Schmerz. Im Augenblick, wo sein Gedanke so auf dem Priester haftete, sah er, als der Morgenschein die Gewölbepfeiler erhellte, wie im oberen Stock von Notre-Dame, an der Biegung des oberen Geländers eine Gestalt einherschritt. Es war der Archidiakonus.
Claude ging ernst und langsam auf den nördlichen Turm zu; er blickte nicht geradeaus, sondern wandte sein Gesicht dem rechten Seineufer zu. Das Haupt trug er aufrecht, als wolle er über die Dächer hinweg etwas suchen. An Quasimodo schritt er vorüber, ohne ihn zu bemerken. Wie versteinert durch diese plötzliche Erscheinung sah der Taube, wie er das Tor der nördlichen Treppe durchschritt, von wo man das Stadthaus erblickt. Quasimodo stand auf, um dem Priester zu folgen. Er stieg die Treppe hinan, um zu erfahren, weshalb der Priester hinaufging. Übrigens wußte der arme Glöckner nicht, was er beginnen sollte. Er war voll Wut und Furcht. Der Archidiakonus und die Zigeunerin erregten in seinem Herzen einen heftigen Kampf.
Als er auf den Gipfel des Turmes gelangte, untersuchte er vorsichtig, bevor er aus dem Dunkel der Treppe hinaustrat, wo der Archidiakonus stand. Der Priester wandte ihm den Rücken. Ein durchbrochenes Geländer umgab die Platte des Kirchturm. Der Priester, dessen Augen über die Stadt schweiften, stützte die Brust auf die Seite der Balustrade, von der aus man die Brücke Notre-Dame überblickte. Quasimodo schlich mit Wolfsschritten näher und sah ebenfalls nach derselben Richtung. Auch war die Aufmerksamkeit des Priesters zu sehr auf eine Punkt gerichtet, als daß er die Schritte Quasimodos hätte hören können.
Auf dem Vorplatz der Kirche machten ein paar Bürgerfrauen, den Milchtopf in der Hand, einander voll Erstaunen aufmerksam auf das sonderbar verfallene Aussehen des Haupttores von Notre-Dame und zwei Bleiströme, die in den Sandsteinrinnen erstarrt waren. Quasimodos Scheiterhaufen zwischen den Türmen war erloschen. Tristan hatte schon den Platz abfegen und abwaschen und die Toten in die Seine werfen lassen. Könige wie Ludwig XI. tragen Sorge, nach einem Gemetzel so schnell wie möglich das Pflaster reinigen zu lassen.
Außerhalb der Balustrade des Turmes und zwar gerade unter der Stelle, wo der Priester stand, war eine phantastisch geschnittene Dachrinne, und in deren Spalte standen zwei hübsche Levkoien, die, vom Hauche des Windes geschüttelt und gleichsam lebendig, sich mutwilligen Gruße zuzunicken schienen. Über den Türmen hörte man fern in der Luft das Geschrei der Vögel. Der Priester aber sah und hörte nichts von dem. Starr blickte er auf den Grèveplatz hinab.
Quasimodo brannte vor Begier, ihn zu fragen, was er mit der Zigeunerin begonnen habe; allein der Archidiakonus schien in dem Augenblick außerhalb der wirklichen Welt sich zu befinden. Offenbar befand er sich in einer der qualvollsten, leidenschaftlichsten Minuten des Lebens, in denen man selbst das Einstürzen der Erde nicht bemerken würde. Schweigend und unbeweglich stand er da, indem er den Blick auf einen bestimmten Ort heftete. Sein Schweigen und seine Unbeweglichkeit hatten etwas so Furchtbares, daß der wilde Glöckner bebte und nicht wagte, daran zu rühren. Nur folgte sein Blick der Augenrichtung des Archidiakonus (dies war ja auch eine Art, ihn zu befragen), und so trafen beider Blicke auf den Grèveplatz.
Er sah, was der Priester betrachtete. Die Leiter war am Galgen aufgerichtet. Einiges Volk und viele Soldaten standen auf dem Platze. Ein Mann schleifte etwas Weißes, woran etwas Schwarzes hing, über das Pflaster. Der Mann hielt am Fuß des Galgens. Dann ereignete sich etwas, was Quasimodo nicht genau sehen konnte. Sein einziges Auge hatte zwar alle Schärfe bewahrt, allein ein dichter Haufen von Soldaten verhinderte ihn, alles zu sehen. Da ging die Sonne auf, und ergoß eine solche Lichtflut über Paris, daß alle Turmspitzen, Schornsteine und Giebel auf einmal im
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