Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
auf. Er war ein ernstes und trauriges Kind, das mit Eifer studierte und schnell lernte; während der Erholungsstunden stieß er kein lautes Geschrei aus und nahm nur geringen Anteil an den Spielen seiner Mitschüler. Mit sechzehn Jahren schon konnte der junge Geistliche in mystischer Theologie einem Kirchenvater, in kanonischer Theologie einem Vater der Konzilien, in scholastischer Theologie einem Doktor der Sorbonne die Spitze bieten.
Nachdem er die Theologie durchstudiert, hatte er sich auf die geistlichen Erlasse geworfen, und als diese verdaut waren, auf die Medizin und die freien Künste. Er studierte die Wissenschaft der Kräuter und Salben, ward erfahren in Fiebern und Quetschungen. In gleicher Weise erlangte er alle Grade der Lizenz, Meisterschaft und Doktorwürde in den freien Künsten. Er studierte Latein, Griechisch und Hebräisch, ein dreifaches, damals nicht häufig betretenes Heiligtum. Er hatte ein wahres Fieber, in der Wissenschaft zu lernen und Kenntnisse anzuhäufen. Mit achtzehn Jahren hatte er die vier Fakultäten hinter sich; nur einen Zweck schien dem Jüngling das Leben zu haben, den des Wissens. Ungefähr in dieser Zeit veranlaßte die außergewöhnliche Sommerhitze des Jahres 1466 die große Pest, die 40 000 Menschen im Gerichtsbezirke von Paris dahinraffte, unter diesen auch den Sterndeuter des Königs, Meister Arnoul, der ein sehr gescheiter und dazu drolliger Mann war. Damals verbreitete sich in der Universität das Gerücht, die Straße Tirechappe werde besonders durch die Krankheit verheert. Dort wohnten Claudes Eltern auf ihrem Lehen. Der junge Student eilte erschrocken zum väterlichen Hause. Als er eintrat, waren Vater und Mutter schon am Tage vorher gestorben. Ein kleiner Bruder in Windeln lebte noch und schrie verlassen in seiner Wiege. Dieser allein war ihm von seiner Familie verblieben; der Jüngling nahm das Kind auf den Arm und verließ gedankenvoll das Haus.
Bis dahin lebte er nur für die Wissenschaft, jetzt begann er sein Dasein für das Leben, denn diese Katastrophe ward für Claude zur Krise. Als Waise im neunzehnten Jahre, als ältester Sohn und Familienhaupt, ward er auf rauhe Weise den Träumereien der Schule entrissen und auf die Wirklichkeit angewiesen. Von Mitleid bewegt, empfand er Leidenschaft und Hingebung für seinen Bruder, ein ihm bis dahin fremdes und dennoch süßes Gefühl seines Herzens, nachdem er nur Bücher geliebt hatte. Diese Zuneigung entwickelte sich bis zur merkwürdigsten Höhe; in einer so frischen Seele glich sie der ersten Liebe. Von Kindheit an von seinen Eltern getrennt, hatte er sie kaum gekannt; zwischen Büchern gleichsam eingemauert und begierig, alles zu erlernen und zu durchforschen, achtete er nur seines Verstandes, der in den Studien sich erweiterte, und seiner Phantasie, die beim Durchforschen der Dichter sich erhob; kurz, der arme Student hatte noch nicht Zeit gehabt, sein Herz zu fühlen. Jener jüngere, verwaiste Bruder, der ihm so plötzlich aufgebürdet ward, schuf ihn zum neuen Menschen um. Er sah, daß es noch andere Dinge in der Welt gab als Homers Verse und der Sorbonne Spekulationen; daß der Mensch der Liebe bedarf, und daß ein Leben ohne zartere Neigung dem trockenen, kreischenden und sich abreibenden Räderwerk gleicht. Allein er wähnte, die Liebe des Blutes und der Familie genüge und sein kleiner geliebter Bruder könne sein ganzes Dasein ausfüllen; denn er befand sich noch in dem Alter, wo die Täuschung nur durch Täuschung ersetzt wird. Mit der Leidenschaft eines tiefen, glühenden Charakters umfing er seinen kleinen Jehan mit Liebe; das arme, hinfällige, blonde und rosige Geschöpf, die Waise, ohne andere Stütze als die einer Waise, rührte tief sein Herz, und als ernster Denker sann er über Jehan mit unendlichem Mitleid. Er hegte ihn wie ein zerbrechliches, kostbares Kleinod. Er ward ihm mehr als Bruder, er ward ihm zur Mutter.
Der kleine Jehan hatte noch säugend seine Mutter verloren. Claude übergab ihn einer Amme. Außer Tirechappe besaß er als Erbschaft seines Vaters das Lehen du Moulin. Es bestand aus einer Mühle auf einem Hügel beim Schloß Bicêtre. Die dort wohnende Müllerin säugte ein schönes Kind; die Universität lag in der Nähe, und Claude trug sein Kind zu jener Frau. Weil er jetzt fühlte, daß ihm eine Last aufgebürdet war, faßte er das Leben von der ernsten Seite. Der Gedanke an seinen kleinen Bruder ward ihm nicht allein zur Erholung, sondern auch zum Zweck seiner Studien. Er
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