Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
beschloß, sich gänzlich einer Zukunft zu weihen, für die er vor Gott verantwortlich war, und nie eine Gattin, nie ein anderes Kind zu besitzen, sondern stets nur das Glück seines Bruders im Auge zu haben. Er wandte sich mit noch höherem Eifer seinem geistlichen Beruf zu. Sein Verdienst, sein Wissen, sein Stand als unmittelbarer Vasall des Bischofs von Paris öffneten ihm weit die Tore der Kirche. Mit zwanzig Jahren ward er durch besondere Dispensation des römischen Stuhles Priester und bediente als der jüngste Kaplan von Notre-Dame den Altar, den man wegen der dort gelesenen Spätmesse Altare pigrorum nannte.
Während er sich dort mehr als jemals in seine geliebten Bücher versenkte, die er nur für eine Stunde verließ, um zum Lehen Moulin zu eilen, erwarb er sich wegen seiner mit Charakterstärke und Strenge verbundenen Gelehrsamkeit, wie man beides in dem Alter selten vereint findet, die Bewunderung und Achtung des ganzen Klosters. Vom Kloster aus verbreitete sich sein Ruf als Gelehrter unter dem Volk und verwandelte sich dort, wie es damals häufig geschah, in den Ruf eines Zauberers. Dies war der junge Priester, der zum Erstaunen der Betschwestern den mißgestalteten Findling zu sich nahm. Als er ihn aus dem Sack zog, fand er wirklich, er sei sehr mißgestaltet. Der arme kleine Teufel hatte eine Warze auf dem linken Auge, sein Kopf stand zwischen den Schultern, das Rückgrat war gebogen, der Brustkasten ragte hervor, die Beine waren verdreht; er schien aber Lebenskraft zu besitzen, und obgleich man unmöglich unterscheiden konnte, welche Sprache er stammelte, deutete sein Geschrei auf Kraft und Gesundheit. Er taufte sein Adoptivkind und nannte es Quasimodo. Vielleicht wollte er damit den Tag andeuten, an dem er es fand, vielleicht auch damit bezeichnen, das kleine Geschöpf sei unvollständig und gleichsam nur flüchtig entworfen. Wirklich war auch Quasimodo einäugig, bucklig, krummbeinig, fast nur ein Beinahe.
16. Immanis pecoris custos, immanior ipse*
So war denn Quasimodo 1482 herangewachsen. Schon seit mehreren Jahren war er Glöckner von Notre-Dame durch die Gnade seines Adoptivvaters Claude Frollo, der Archidiakonus durch die Gnade seines Lehrherrn, Herrn Louis de Beaumont, geworden war, der zum Bischof von Paris 1472 durch die Gnade seines Protektors Olivier le Daim, des Barbiers beim König Ludwig XI. von Gottes Gnaden, ernannt war. Quasimodo war also Glöckner von Notre-Dame. Mit der Zeit hatte sich ein gewisses enges Band gebildet, das ihn mit der Kirche vereinte. Durch das doppelte Unglück seiner unbekannten Geburt und seines mißgestalteten Leibes auf ewig von der Welt getrennt, seit der Kindheit in diesen doppelten, unüberschreitbaren Kreis gebannt, hatte sich der arme Unglückliche daran gewöhnt, nichts in der Welt jenseits der heiligen Mauern, die in ihren Schatten ihn aufgenommen hatten, zu erblicken. Wie er heranwuchs und sich entwickelte, ward Notre-Dame für ihn Ei, Nest, Haus, Vaterland und Welt.
* Lateinisch: Hüter eines schrecklichen Tieres, selbst noch schrecklicher.
Gewiß bestand ein geheimnisvolles inneres Band zwischen dem Geschöpf und dem Gebäude. Als er noch klein unter Sprüngen im Dunkel der Gewölbe dahinkroch, erschien er mit seinem tierischen Gliederbau und dem Menschenantlitz als das natürliche Gewürm des nassen und düsteren Bodens, worauf der Schatten der Kapitäle seine bizarren Formen hinwarf. Später, als er zum erstenmal sich mechanisch an den Strick der Türme klammerte und die Glocke erschallen ließ, weckte dies bei seinem Adoptivvater Claude den Eindruck eines Kindes, dessen Zunge sich löst und zu sprechen beginnt.
Als er sich so allmählich im Verständnis des Wesens der Kathedrale entwickelte, dort lebte und schlief, sie nie verließ und in jeglicher Stunde ihren geheimnisvollen Einfluß erlitt, gelangte er allmählich dahin, ihr zu gleichen, sich ganz in sie zu versenken und gleichsam ein wesentliches Ganzes von ihr zu bilden. Seine vorspringenden Winkel schachtelten sich (man verzeihe uns das Bild) in die zurücktretenden Winkel des Gebäudes ein, und er schien nicht allein sein Bewohner, sondern auch natürlich in ihm enthalten zu sein. Fast konnte die Form ihres Hauses, angenommen. Der Dom war sein Loch, seine Wohnung, seine Hülle. Zwischen ihm und der alten Kirche bestand eine instinktartige, so tiefe Sympathie, so manche materielle, magnetische Verwandtschaft, daß er an ihr gewissermaßen wie die Schildkröte an ihrer Schale hing. Die
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