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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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bisweilen glücklich. Mit ihnen sprach er, liebte sie, liebkoste sie und begriff sie. Lieben doch Mütter das Kind am meisten, das ihnen die heftigsten Schmerzen erregte.
    Allerdings war ihre Stimme die einzige, die er noch vernehmen konnte. Deshalb hatte die größte Glocke den meisten Anspruch auf seine Liebe. Sie zog er unter allen lärmenden Töchtern in der Familie vor, die an Festtagen ihn umrauschte. Die große Glocke hieß Marie. Quasimodo hatte fünfzehn Glocken in seinem Serail, allein die große Marie war seine Lieblingsglocke.
    Man kann sich keinen Begriff von Quasimodos Freude an außergewöhnlichen Tagen machen. Sobald der Archidiakonus ihn losließ und sagte: „Geh!“, stieg er die Wendeltreppe des Turmes schneller hinauf, als ein anderer sie hätte hinabsteigen können. Außer Atem trat er in die luftige Kammer der großen Glocke; einen Augenblick beschaute er sie mit Liebe und Behagen; dann sprach er zu ihr in sanften Worten, streichelte sie mit der Hand wie ein Pferd, das eine lange Bahn zurücklegen soll. Hierauf hieß er seine Gehilfen im unteren Stockwerk beginnen. Diese hingen sich an die Taue; die Winde kreischte, und die ungeheure Metallkapsel ward langsam erschüttert.
    Quasimodo erbebte mit der Glocke. „Hurtig!“ rief er mit wahnsinnigem Lachen. Die Bewegung der Glocke ward beschleunigt; je mehr der Klöppel einen offenen Winkel durchlief, desto flammender wurden Quasimodos Augen. Endlich begann das große Geläute; der ganze Turm zitterte, Zimmerwerk, Blei, Steine. Alles brüllte auf einmal, von den Grundsteinen an bis zum Kreuz der Krone. Quasimodo schäumte, lief hin und her, zitterte mit dem Turm vom Kopf bis zu den Füßen. Die entfesselte, rasende Glocke zeigte abwechselnd den beiden Wänden des Turmes ihren ehernen Rachen, woraus der Hauch eines Sturmes drang, den man vier Stunden weit vernahm. Quasimodo stellte sich vor den offenen Rachen; er kauerte nieder und hob sich mit den Biegungen der Glocke, atmete den betäubenden Hauch, blickte abwechselnd auf den tiefen Platz, der zweihundert Fuß unter ihm von Menschen wimmelte, und auf die ungeheure kupferne Zunge, die ihm ins Ohr heulte. Es war das einzige Wort, das er vernahm, der einzige Ton, der für ihn das ewige Schweigen unterbrach. Er breitete die Glieder, wie ein Vogel die Flügel im Sonnenschein. Plötzlich erreichte auch ihn das Wüten der Glocke; sein Blick ward außergewöhnlich; er erwartete das Vorbeieilen des Glockenkessels, gleich der Spinne, die die Fliege erlauert, und warf sich plötzlich mit ganzem Leib darüber hin. Dann über dem Abgrund schwebend, in das furchtbare Schwanken der Glocke geschleudert, packte er das eherne Ungeheuer bei den Ohren, stemmte die Knie in die Seiten, spornte mit den Fersen, verdoppelte den Stoß durch das Gewicht seines Körpers. Der Turm bebte, er selbst schrie, knirschte mit den Zähnen, seine roten Haare sträubten sich empor, seine Brust stöhnte wie ein Blasebalg, sein Auge sprühte Flammen, die ungeheure Glocke wieherte keuchend unter ihm. Dann war es nicht mehr die Glocke und Quasimodo, sondern ein Traum, ein Wirbel, ein Sturm, der Schwindel, reitend auf dem Brausen, ein sonderbarer Zentaur, halb Mensch, halb Glocke.
    Die Gegenwart dieses merkwürdigen Wesens brachte in der ganzen Kathedrale den Kreislauf eines eigentümlichen Lebens hervor. Es schien (so verkündete es wenigstens der übertreibende Aberglaube des Volkes), als beseele ein mystischer Ausfluß alle Steine von Notre-Dame und hauche Bewegung in die tiefen Eingeweide der alten Kirche. Auch schien wirklich die Kathedrale ein gelehriges und gehorsames Geschöpf unter seiner Hand; sie erwartete seinen Willen, ihre laute Stimme zu erheben, sie ward von Quasimodo wie von einem Spiritus familiaris erfüllt. Man hätte sagen mögen, er wecke den riesenhaften Bau zum Atmen. Dort war er überall, sich auf allen Punkten des Baues vervielfältigend. Bald sah man mit Schrecken am höchsten Turm einen sonderbar gestalteten Zwerg auf allen vieren kriechen, klettern und sich winden, außen über dem Abgrund hinabsteigen, von dem einen hervorragenden Punkt zum andern springen und das Innere einer in Stein gehauenen Gorgo durchsuchen; Quasimodo nahm Rabennester aus. Bald stieß man im Dunkeln auf eine Art lebenden, niederkauernden Undings; Quasimodo saß sinnend da. Bald schaute man unter einem Turm einen ungeheuren Kopf und ein Bündel Glieder, das sich wütend an einem Stricke schaukelte; Quasimodo läutete die Vesper oder das

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