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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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runzelhafte Kathedrale war sein Rückenschild.
    Diese Wohnung war ihm eigentümlich. Sie besaß keine Tiefe, in die er nicht gedrungen war, keine Höhe, die er nicht erklommen hatte. Mehrere Male erkletterte er die Fassade an den Erhöhungen, wobei er sich nur auf die hervorspringenden Skulpturen stützte. Die Türme, auf deren äußerer Oberfläche man ihn kriechen sah wie eine Eidechse, die auf einer spitz zugehenden Mauer hinschlüpft, diese zwei hohen, drohenden, furchtbaren Zwillingsriesen hatten für ihn weder Schwindel, noch Schrecken, noch Betäubung. Sah man sie so sanft unter seinen Händen, so leicht zu ersteigen, hätte man sagen sollen, er habe sie gezähmt. Durch Springen und Klimmen und Herumtummeln unter den Abgründen der gigantischen Kathedrale war er gewissermaßen zum Affen und zur Gemse geworden.
    Übrigens schien nicht allein sein Körper, sondern noch mehr sein Geist sich nach der Kathedrale gebildet zu haben. Nur mit Mühe und Geduld gelang es Claude Frollo, ihn sprechen zu lehren. Aber ein Verhängnis waltete über dem armen Findelkinde. Als er mit vierzehn Jahren Glöckner ward, vollendete eine neue körperliche Schwäche sein Unglück. Die Glocken sprengten ihm das Trommelfell, er ward taub. Das einzige Tor, das ihm die Natur für die Welt offengelassen hatte, schloß sich für immer. Hierauf ward der einzige Strahl der Hoffnung und des Glückes, der noch in seine Seele dringen konnte, zurückgeworfen. Die Seele versank in tiefe Nacht. Die Melancholie des Unglücklichen ward tief und unheilbar, wie seine Häßlichkeit. Hinzu kam noch, daß seine Taubheit ihn gewissermaßen stumm machte. Denn um bei andern kein Lachen zu erwecken, entschloß er sich fest zum Schweigen, und brach dies nur, wenn er allein war. Freiwillig fesselte er die Zunge, die Claude Frollo mit so vieler Mühe gelöst hatte. Daher war seine Zunge, wenn er sprechen mußte, schwerfällig und ungeschickt, gleich einer Tür mit verrosteten Angeln.
    In einem mißgestalteten Körper verkrüppelt der Geist. Quasimodo fühlte kaum wie sich in seinem Innern die nach seinem Bilde geformte Seele regte. Alle Eindrücke erlitten eine beträchtliche Brechung, bevor sie zu seinem Denkvermögen gelangten. Sein Gehirn war ein sonderbarer Vermittler; alle Ideen, welche es durchzogen, verließen es verzerrt. Der Widerschein, der aus dieser Brechung hervorging, war notwendigerweise auseinandergehend und abweichend. So erzeugten sich tausende optische Täuschungen, tausend Verirrungen des Urteils, tausend Abwege, auf denen seine Gedanken bald wahnsinnig, bald blödsinnig umherschwärmten.
    Die erste Wirkung dieser unheilvollen Organisation war die Verwirrung seines Blicks. Nie erhielt er einen unmittelbaren Eindruck von den Dingen. Die äußere Welt erschien ihm bei weitem ferner als uns. Die zweite Wirkung seines Unglücks war Bosheit. Boshaft war er, weil er wild war; wild war er, weil er häßlich war. In jener Natur lag ebensowohl eine Logik, als in der unseren. Auch seine außerordentlich entwickelte Kraft war Ursache seiner Bosheit. Malus puer robustus*, sagt Hobbes. Übrigens muß man ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Bosheit war ihm nicht angeboren. Er fühlte sie schon bei seinen ersten Schritten unter Menschen; denn er ward bespien, beschimpft, zurückgestoßen. Das Wort des Menschen war für ihn Spott oder Fluch. Als er aufwuchs, fand er sich nur von Haß umringt; er nahm ihn auf, wie er war, und erlangte allgemeine Bosheit; er bemächtigte sich der Waffe, mit der man ihn verwundete.

    * Lateinisch: Ein böser Knabe ist stark.
    Übrigens wandte er sein Antlitz nur ungern Menschen zu; ihm genügte die Kathedrale. Sie war mit Gestalten aus Marmor, Königen, Bischöfen, Heiligen, bevölkert, die ihm wenigstens nicht ins Gesicht lachten und auch für ihn einen ruhigen, wohlwollenden Blick hatten. Die Statuen der Ungeheuer und Dämonen hegten gegen ihn keinen Haß. Er glich ihnen zu sehr. Die Heiligen waren seine Freunde und segneten ihn; die Ungeheuer waren seine Freunde und bewachten ihn. Auch hatte er mit ihnen langdauernde Herzensergießungen; bisweilen brachte er ganze Stunden, vor einer der Statuen niedergekauert, damit zu, mit ihr einsam zu schwatzen. Kam ein anderer hinzu, so floh er gleich einem Liebhaber, den man auf einer Serenade überrascht.
    Die Kathedrale war seine Welt, und in dieser liebte er vor allem die Glocken. Sie weckten seine Seele, breiteten ihre armen, in die Höhlen gezwängten Flügel aus und machten ihn

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