Der goldene Greif
zu sich, der gerade angelegentlich damit beschä f tigt war, sein Gefieder zu putzen. Sofort unterbrach der Adler seine Beschäftigung und ließ sich auf dem Sattelknauf nieder. Raigo schwang sich aufs Pferd und ritt in die Richtung, in der das Schloß lag.
Als er am Tor des Schlosses ankam, wurde er von den Wachen angerufen.
„Halt! Wer seid Ihr, und was ist Euer Begehr?“ fragte einer der Soldaten. Er nahm eine F a ckel aus einem der Wandhalter und leuchtete den Ankömmling damit an. Raigo zog einen Ring vom Finger und reichte ihn der Wache.
„Nimm diesen Ring und bring’ ihn zu König Tamantes!“ sagte er. „Sage ihm, der Eigentümer wünsche ihn zu sprechen. Doch merke gut auf! Nur der König selbst darf die Botschaft h ö ren. Gelangt sie an fremde Ohren, so werde ich dich zur R e chenschaft ziehen, und auch Tama n tes wird dir zürnen. Und nun eil’ dich!“
Der Mann verschwand durch den Torgang. Der andere hielt mißtrauisch seine Lanze auf Ra i go gerichtet. Dieser Fremde, der da mit einem riesigen Adler auf dem Sattel vor ihm hielt und so gebieterisch redete, war ihm nicht geheuer. Besonders der V o gel beeindruckte den Mann, der noch nie ein solches Tier aus der Nähe gesehen hatte.
Einige Zeit später kehrte die Wache in Begleitung eines Dieners zurück, der eine Lampe trug.
„Folgt mir bitte, Herr!“ sagte der Bedienstete mit einer Verbeugung.
Raigo stieg vom Pferd und folgte dem Mann in den Schloßhof. Dort erschien ein Page, dem Raigo die Zügel seines Pferdes übergab. Argin ließ sich wie selbstve r ständlich auf dem Arm seines Herrn nieder, was den Diener sehr zu erschrecken schien.
„Wollt Ihr den Vogel etwa mit hineinnehmen?“ fragte er besorgt. „Ist er denn nicht gefäh r lich?“
„Nicht, solange man mich nicht angreift!“ antwortete Raigo. „Er wird meinen Arm nicht ve r lassen, wenn ich es ihm nicht sage.“
„Gut denn, so kommt!“ resignierte der Diener mit einem Achselzucken. Er würde sich trot z dem hüten, dem Adler nahe zu kommen.
Er führte Raigo durch einige Gänge zu einem kleinen Raum. Dort entzündete er einige Leuchter und setzte auch das Holz im Kamin in Brand. Dann zog er sich z u rück.
Raigo kannte das Schloß und wußte, daß er sich in einem Zimmer des Seitenflügels b e fand, der nur benutzt wurde, wenn viele Gäste im Schloß waren. Er lehnte sich an den K a min, kraulte Argins Hals und wartete. Als er auf dem Gang Schritte hörte, setzte er den V o gel auf einem Balken des Kamins ab.
Da öffnete sich die Tür, und Tamantes kam herein. Den Blick forschend auf den fremden Gast gerichtet, schloß er die Tür und trat ein paar Schritte auf Raigo zu. Stumm musterte er ihn eine Weile. Auch Raigo sagte kein Wort.
Dann murmelte Tamantes: „Er könnte es sein! Wahrhaftig, er könnte es sein!“
Raigo verbeugte sich. „Ich bin es wirklich, verehrter Oheim,“ sagte er mit belegter Stimme. „Darf ich den Freund des Vaters noch so nennen, wie ich es als Knabe tat? Ihr selbst habt diese Anrede einmal von mir verlangt, wißt Ihr noch? Der Name „K ö nig Tamantes“ war noch zu schwer für meine ungeübte Zunge, und ich war in Tränen ausgebrochen, als Ihr über me i ne Wortverdrehung lachtet. Da habt Ihr mich getröstet und mir erlaubt, Euch Oheim zu ne n nen.“
Bei Raigos Worten hatten die Augen des Königs einen feuchten Schimmer beko m men. Jetzt trat er auf ihn zu und schloß ihn wortlos in die Arme. Auch Raigo schluckte, und es war ihm, als bräche tief in seinem Inneren eine eiserne Kette en t zwei.
Dann löste sich Tamantes aus der Umarmung und schob Raigo ein Stück von sich ab.
„Raigo, mein Junge!“ rief er. „Dies ist ein Wunder der Götter! Ich dachte, du seiest tot, als all die Jahre keine Nachricht von dir kam, nachdem du am Vorabend deiner Krönung davong e laufen bist. Warum nur hast du das getan?“
„Hat man es euch so erzählt?“ fragte Raigo bitter. „So wundert es mich nicht mehr, daß Ihr dem Sohn des Thronräubers Gastfreundschaft gewährt und ihm sogar Euer Mündel Cori a ne zur Frau geben wollt.“
„Thronräuber?“ entsetzte sich Tamantes. „Was ist das für eine Geschichte? Komm, erzähle mir rasch, was sich zugetragen hat. Ich ahne, daß der Verdacht, den ich im Stillen hatte, sich bewahrheiten wird. Doch es gab keine Beweise, und außerdem hätte es recht gut zu dir g e paßt, bei Nacht und Nebel zu verschwinden, um dich vor den unbequemen
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