Der goldene Greif
kann ich es nicht ertragen, Euch kummervoll und bedrückt zu sehen. Sagt mir, was Euch quält und wie ich Euch helfen kann!“
„Ihr werdet mir gram sein, König Vangor“, hatte Raigo geantwortet, „wenn Ihr den Grund meiner Bitterkeit erfahrt. Denn es ist kein edles Gefühl, das mich bewegt. Der helle Neid blickt aus meinen Augen und verzieht mir den Mund, wenn ich Euch im Kreise Eurer Gefäh r ten sehe. Denn genau wie Ihr könnte ich heute in meiner Halle sitzen und stolze Freu n de um mich versammeln, wenn das Schicksal mich nicht um diese Gunst gebracht hätte. Und wol l tet Ihr mir helfen, zu meinem Recht zu kommen, so müßte Euer ganzes Heer viele hundert Ken reiten, und Ihr müßtet Euer Reich schutzlos zurücklassen. Wahrlich, ich bene i de Euch! Wenn auch von Feinden bedroht, so seid Ihr doch in der Heimat, habt ein Volk, das Euch liebt, und Vasallen, die für Euch ihr Blut geben würden. Ich dagegen bin heimatlos, ein V a gabund, der nicht wagen kann, an den Ort seiner Geburt zurückzukehren, wenn er nicht sein Leben verlieren will. Fast sieben Jahre habe ich nun das Haus meiner Väter nicht mehr g e sehen und die gr ü nen Hügel meiner Heimat!
Einst sehnte ich mich hinaus in die Welt und empfand die Pflichten, die mir auferlegt we r den sollten, als Fesseln. Wie gern würde ich heute all die ersehnten Abenteuer gegen diese sanften Bande einta u schen!“
„Warum sollte ich Euch gram sein“, hatte Vangor erwidert, „wo es doch nur das Heimweh ist, das Euch wie Neid erscheint. Denn Ihr neidet mir nicht das, was ich besitze, wünscht Euch nicht an meinen Platz, sondern sehnt Euch nur nach dem, was Euch die launische Göttin Finara genommen hat. Doch ich sehe in Euren A u gen, daß auch mir die Göttin des Glücks nicht gewogen ist, denn sie wird mir einen Freund nehmen. Ich weiß, Ihr werdet mich verla s sen, denn Euer Herz gebietet es Euch. Zu stark ist das Verlangen in Euch geworden, die He i mat wiederzusehen, sei die Gefahr auch noch so groß. Und nur wenig kann ich tun, um Euch den Weg zu erleichtern, denn nur die Götter wissen, was Euch in Ruw a rad erwarten wird.“
So hatte Raigo schweren Herzens und doch voller Ungeduld Abschied genommen, und der König und die Moradin hatten ihm bis an die Grenzen Ubiraniens das Geleit gegeben.
Lange Zeit war er unterwegs gewesen, bis er vor etwa drei Wochen die Grenze nach Im a ran überschritten hatte. Er wollte König Tamantes aufsuchen, um sich bei ihm über die L a ge in Ruwarad zu informieren. Vielleicht hoffte er auch im Geheimen, der Freund des Vaters wü r de ihm helfen, sein Reich zurückzugewinnen. Doch di e sen Wunsch gestand sich Raigo nicht ein.
Und nun war das erste bekannte Gesicht, das er sah, das seines Vetters Lardar g e wesen. Ausgerechnet der Sohn des Thronräubers hatte ihm als Erster über den Weg laufen mü s sen! Als Raigo ihn erkannte, hätte er ihn am liebsten erschlagen, doch er war dazu nicht fähig gewesen. Was konnte Lardar für die Tat seines Vaters? Und vielleicht hatte auch die Anwesenheit Corianes ihn besänftigt. Wie schön sie gewo r den war! Immer wieder stieg das G e sicht des Mädchens vor seinen Augen auf, ihr bezauberndes Lächeln und die Anmut ihrer Bewegungen. Zwanzig Jahre mußte sie jetzt alt sein. Lächelnd dachte er an das ung e lenke, magere Ding zurück, daß sie gewesen war, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Wie hatte sie sich verändert! Und trotzdem hatte er sie sofort erkannt.
Doch wie sehr mußte auch er sich verändert haben, wenn weder Lardar noch Coriane g e wußt hatten, mit wem sie sprachen. Raigo zog einen kleinen Spiegel aus der Satteltasche und betrachtete sich. Er versuchte, sich das Bild des jungen Burschen vorzustellen, der er damals gewesen war.
Doch vom Aussehen dieses Jünglings war nichts mehr vorhanden. Das helle Haar war dun k ler geworden, das weiche, bartlose Gesicht fest und kantig. Ein kurzer Bart bedeckte das Kinn und umrahmte den Mund, dessen volle Lippen sich jetzt häufig fest zusa m menpreßten, wo früher meist ein kleines Lächeln um sie gespielt hatte. Auch seine Gestalt war breiter gewo r den, gestählt vom Kampf und abgehärtet durch den häufigen Aufenthalt im Freien. Nur die hellblauen Augen waren noch dieselben, obwohl ihr Blick ernster und schärfer g e worden war.
Nein, es war kein Wunder, daß sie ihn nicht erkannt hatten. Den Raigo, an den sie sich eri n nert hätten, gab es schon lange nicht mehr.
Als es dunkelte, rief Raigo Argin
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