Der goldene Greif
fläche deines Bewußtseins liegt, so als würdest du mit dir selbst sprechen.’
Raigo war etwas erleichtert. Er schaute zu dem neben ihm schreitenden Greif hi n unter, und sein Blick begegnete den goldenen Augen des Tieres. Täuschte er sich, oder lag wirklich in diesem unergründl i chen Blick der Anflug eines Lächelns?
,Wir kommen jetzt bald in bewohnte Gegenden, wie ich denke’, sprach der Greif weiter. ,Dorthin kann ich dich jedoch nicht begleiten. Wir werden uns deshalb bald trennen mü s sen. Während du diese Nacht lagerst, werde ich mich für einige Zeit entfernen. Am Morgen we r de ich dann noch einmal zurückkommen. Doch dann wird für mich die Gefahr zu groß, daß fremde Augen mich sehen. Das wäre gefäh r lich für mich, denn der Aberglaube, wer einen Greif töte, erwerbe seine Kräfte und fände einen Schatz, ist weit verbreitet. Denn auch wenn wir große Kräfte von mannigfacher Art besitzen, so sind wir doch nicht unsterblich. Aber b e vor ich dich dann für lange Zeit verlassen muß, werde ich dir meinen Namen sagen, damit du mich rufen kannst, wenn du in Bedrängnis gerätst.’
Raigo wählte für sein Nachtlager eine vom Weg abgelegene Senke, in der dichtes Gebüsch stand. Als es dunkelte, erhob sich der Greif in die Lüfte. Raigo sah der sich gegen den Mond abzeichnenden Silhouette der riesigen Schwingen nach, bis eine Wolke das Mondlicht au s löschte und der dunkle Schatten sich in der Nacht verlor.
Der Adler hatte sich über Raigo auf einem Ast niedergelassen. Eine Weile noch spähte der Vogel a n gestrengt in die Dunkelheit, doch dann steckte er den Kopf ins Gefieder.
Raigo schaute noch einige Zeit zu ihm hoch, doch dann fielen ihm die Augen zu. Noch im Einschlafen dachte er: ,Einen Namen! Er muß einen Namen bekommen. Warum habe ich nicht schon eher daran gedacht?’
Im Morgengrauen wurde Raigo durch den Schlag schwerer Flügel geweckt. Der Greif war zurückg e kehrt. In seiner Klaue trug er einen Beutel, den er Raigo vor die Füße legte.
,Nimm dieses Gold!’ hörte Raigo. ,Es wird für den Anfang genügen, dir die notwendigen Dinge für deinen weiteren Weg zu beschaffen. Mehr darf ich dir nicht geben. Alle Greifen wissen zwar um große Schätze, aber sie sind nur ihre Hüter und dürfen sie niemandem ze i gen. Schon im Leib meiner Mutter war mir meine Aufgabe b e stimmt, und nun muß ich fort, um dieser Bestimmung zu folgen. Darum höre nun meinen Namen, der mir ebenfalls ang e boren ist. Ich heiße Phägor. Nimm nochmals meinen Dank für alles, was du für mich und meinen Bruder getan hast. Gerätst du in Gefahr, wird der Adler dir beistehen, soweit es in seiner Kraft liegt. Doch reicht diese Hilfe nicht aus, und siehst du keinen anderen Au s weg, so rufe meinen N a men. Auf den Flügeln des Sturms werde ich dann zu dir eilen. Und nun - leb’ wohl! Mögen die Götter schützend ihre Hand über dich halten!’
Sekunden später schwebte er schon hoch über Raigo. Er stieß einen hellen Schrei aus, den der Adler beantwortete. Raigo hob die Hand zum Abschied. Tränen standen in seinen A u gen, als das wunderbare Geschöpf hinter den Wipfeln der Bäume verschwand. Lange noch stand der junge Mann da und schaute in die Richtung, in die Phägor geflogen war. Hatte er das alles nicht nur geträumt?
Doch da riß ein Laut des Adlers Raigo aus seinem Sinnen. Nein, er hatte nicht g e träumt! Dort saß der Adler auf seinem Ast, und hier vor seinen Füßen lag der Be u tel, den der Greif mi t gebracht hatte.
Raigo bückte sich und hob ihn auf. Das Leder war alt und brüchig, und als er ve r suchte, die Schnur des Verschlusses aufzuziehen, zerfiel sie in seinen Händen. Er schüttelte den Be u tel, und etliche Münzen fielen in seine Handfläche. Die Prägung war Raigo völlig unb e kannt, doch ohne Zweifel waren es Goldstücke. Ihr Wert war nicht gering, und er wußte nun, daß er sich wirklich um sein Fortkommen in der nächsten Zeit keine Gedanken zu machen brauc h te. Nur eines machte ihm Kop f zerbrechen: Ließe er sich in seinem jetzigen Aufzug in einer Stadt sehen und bezahlte mit Gold, würde man ihn für einen Dieb und V a gabunden halten und sehr schnell einsperren. Als er aus dem Schloß fliehen mußte, war ihm nicht einmal die Zeit geblieben, auch nur einige Münzen einzustecken. Er hatte ja nicht einmal Zeit gehabt, seine seidenen Schuhe, die schon nach kurzer Zeit in Fetzen von seinen Füßen hingen, g e gen Stiefel zu vertauschen.
Raigo sah an sich
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