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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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mutterseelenallein?«
    »Zu meinem Vater.«
    »Wer ist dein Vater denn?«
    »Ein Mörder.«
    »Ein was?«
    »Hab ich doch gerade gesagt, ein Mörder — und zwar von Beruf. Er erledigt heute nacht einen Auftrag, und ich bringe ihm saubere Kleider, denn nach der Arbeit ist er meistens von oben bis unten mit Blut bespritzt.«
    »Ach so! Du machst nur Spaß.«
    »Mach ich nicht.«
    Der Maki ließ ein leises Miauen hören und kletterte hinter dem Kopf des Mannes langsam nach oben; auf dem Scheitel angekommen, beäugte er Lyra aufmerksam. Lyra trank unbeirrt ihren Kaffee und aß ihr Sandwich auf.
    »Gute Nacht«, sagte sie dann. »Dahinten kommt mein Vater. Er sieht eher schlecht gelaunt aus.«
    Der Zylindermann drehte sich um, und Lyra ging auf die aus dem Theater strömende Menge zu. Sie hätte sich gern die chthonische Bahn angesehen — Mrs. Coulter hatte gesagt, die Bahn sei eigentlich nicht für vornehme Leute wie Lyra und sie selbst gedacht —, aber sie wollte nicht in eine unterirdische Falle gehen; lieber blieb sie im Freien, wo sie im Notfall wegrennen konnte.
    Lyra marschierte immer weiter, und die Straßen wurden immer dunkler und einsamer. Es nieselte, aber selbst wenn der Himmel wolkenlos gewesen wäre, hätte man durch den Lichtschein, der nachts über der Stadt lag, keine Sterne gesehen. Pantalaimon glaubte, daß sie nach Norden gingen, aber sicher war er nicht.
    Sie kamen durch endlose Straßen mit kleinen, einander zum Verwechseln ähnlichen Backsteinhäusern, deren Gärten so klein waren, daß gerade noch eine Mülltonne hineinpaßte, vorbei an verlassen daliegenden, großen Fabrikgebäuden, beleuchtet nur vom trüben Licht einer hoch oben an der Mauer angebrachten, einsamen anbarischen Laterne, während der Nachtwächter ein Nickerchen am Ofen machte, und hin und wieder an einem düsteren Bethaus, das sich nur durch das Kreuz von einem Lagerschuppen unterschied. Einmal öffnete Lyra die Tür zu einem solchen Bethaus, aber als von einer Bank, die nur einen Meter vor ihr im Dunkel stand, ein Stöhnen ertönte und sie merkte, das überall schlafende Gestalten lagen, ergriff sie die Flucht.
    »Wo sollen wir denn schlafen, Pan?« fragte sie, als sie eine Ladenstraße entlanggingen, vorbei an geschlossenen Geschäften mit heruntergelassenen Rollläden.
    »Irgendwo in einer Toreinfahrt.«
    »Aber da kann uns jeder sehen.«
    »Dahinten ist ein Kanal…«
    Pantalaimon sah in eine Seitenstraße auf der linken Seite. Tatsächlich schimmerte am anderen Ende dunkel Wasser, und als sie sich vorsichtig näherten, sahen sie ein Hafenbecken, an dessen Kais ungefähr ein Dutzend Schleppkähne vertäut waren. Einige ragten hoch aus dem Wasser, andere lagen tief und schwer beladen unter galgenähnlichen Kränen. Aus dem Fenster einer Holzhütte drang ein schwacher Schein, und aus dem Blechschornstein der Hütte stieg ein Rauchfaden auf. Die einzigen anderen Lichter brannten hoch oben an der Mauer einer Lagerhalle und auf dem Portal eines Kranes. Unten am Boden war es dunkel. Auf den Kais stapelten sich Fässer mit Kohlenspiritus, zersägte Baumstämme und Rollen von mit Cauchuc ummantelten Kabeln.
    Auf Zehenspitzen schlich Lyra zu der Hütte und lugte durchs Fenster. Ein alter Mann, der eine Pfeife rauchte, las angestrengt in einem Heft mit Bildergeschichten. Sein Dæmon, ein Spaniel, schlief zusammengerollt auf dem Tisch. Während sie noch hineinsah, stand der Mann auf, nahm einen rußgeschwärzten Kessel vom eisernen Herd und goß heißes Wasser in einen gesprungenen Becher; dann setzte er sich wieder mit seiner Zeitung hin.
    »Sollen wir fragen, ob er uns reinläßt, Pan?« flüsterte sie, aber Pantalaimon hörte ihr nicht zu. Er verwandelte sich in eine Fledermaus, dann in eine Eule und schließlich wieder in eine Wildkatze. Angesteckt von seiner Panik, sah Lyra sich suchend um, und dann, im selben Augenblick wie Pantalaimon, erkannte sie die Gefahr: Zwei Männer rannten von verschiedenen Seiten auf sie zu; der schnellere hielt ein Wurfnetz in den Händen.
    Pantalaimon stieß einen gellenden Schrei aus und stürzte sich in Gestalt eines Leoparden auf den Dæmon des schnelleren Mannes, einen bösartig aussehenden Fuchs, dem er einen Stoß versetzte, der ihn rückwärts vor die Beine des Mannes taumeln ließ. Der Mann sprang fluchend zur Seite, und Lyra rannte an ihm vorbei auf den offenen Kai zu. Auf gar keinen Fall durfte sie sich in eine Ecke drängen lassen.
    Pantalaimon, jetzt ein Adler, stieß zu ihr herunter und

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