Der Goldene Kompass
schrie: »Links! Links!«
Sie schlug einen Haken nach links, sah zwischen Spiritusfässern und einem Wellblechschuppen eine Lücke und schoß wie der Blitz dorthin.
Zu spät! Das Wurfnetz!
Sie hörte ein Zischen in der Luft, und ihre Wange wurde von etwas gestreift, das scharf brannte. Widerlich klebrige Teerschnüre fielen ihr über Gesicht, Arme und Hände, und schon war sie gefesselt und stürzte, und sosehr sie auch um sich schlug, zappelte und sich wehrte, vergeblich.
»Pan! Pan!«
Aber der Fuchsdæmon fiel über Pantalaimon her, der wieder eine Katze war, und Lyra spürte die Schmerzen am eigenen Körper und schrie gepeinigt auf, als Pantalaimon zu Boden ging. Rasch wickelte einer der Männer das Netz eng um Lyras Glieder, Kehle, Rumpf und Kopf und verschnürte sie auf dem nassen Boden zu einem Bündel. Sie war so hilflos wie eine Fliege im Spinnennetz. Der arme Pan schleppte sich verletzt zu ihr. Der Fuchsdæmon hatte sich in seinen Rücken verbissen, und Pantalaimon hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich zu verwandeln. Der andere Mann lag in einer Pfütze; ein Pfeil steckte in seinem Hals…
Als der Mann, der das Netz verknotete, das schließlich sah, herrschte plötzlich Totenstille.
Pantalaimon setzte sich auf und blinzelte; dann ertönte ein leises Plop, und der Mann mit dem Netz fiel würgend und keuchend auf Lyra, die entsetzt aufschrie, denn was aus ihm heraussprudelte, war Blut!
Hastige Schritte näherten sich. Jemand zog den Mann weg und beugte sich über ihn, Hände hoben Lyra hoch, und ein Messer schnitt und zerrte an den Maschen des Netzes, bis sie nacheinander aufgingen und Lyra die Schnur in ihrem Mund ausspucken und das Netz herunterreißen konnte. Sofort kniete sie sich auf den Boden und nahm Pantalaimon in die Arme.
Immer noch kniend, wandte sie den Kopf zu den Neuankömmlingen empor. Drei dunkle Gestalten standen vor ihr, einer mit einem Bogen bewaffnet, die anderen mit Messern, und als Lyra aufsah, entfuhr dem Mann mit dem Bogen ein verblüffter Ausruf.
»Das ist doch Lyra!«
Eine vertraute Stimme, aber Lyra konnte sie erst zuordnen, als der Mann vor sie trat und Licht aufsein Gesicht und den Falkendæmon auf seiner Schulter fiel. Ein Gypter! Ein Gypter aus Oxford!
»Tony Costa«, stellte er sich vor. »Erinnerst du dich? Du hast mit meinem kleinen Bruder Billy immer bei den Booten in Jericho gespielt, ehe die Gobbler ihn holten.«
»Mein Gott, Pan, wir sind gerettet!« schluchzte Lyra, aber dann fiel ihr plötzlich etwas ein: Sie hatte damals doch das Boot der Costas gekapert. Wenn Tony sich nun daran erinnerte?
»Du kommst besser mit uns«, sagte er. »Bist du allein?« »Ja, ich bin weggelaufen…«
»Schon gut, sprich jetzt nicht. Bleib ganz ruhig. Jaxer, bring die Leichen in den Schatten. Und du hältst Wache, Kerim.«
Mit wackeligen Beinen stand Lyra auf und drückte Pantalaimon an die Brust. Pantalaimon drehte suchend den Kopf in eine bestimmte Richtung, Lyra folgte seinem Blick, verstand, weshalb, und wurde selbst neugierig: Was war mit den Daemonen der toten Männer geschehen? Die Antwort war: Sie lösten sich auf. Sie lösten sich auf und wurden wie kleine Rußteilchen weggeweht, mochten sie sich auch noch so sehr an die Männer klammern, zu denen sie gehört hatten. Pantalaimon bedeckte seine Augen, und Lyra hastete blindlings hinter Tony Costa her.
»Was machst du hier?« fragte sie.
»Pst, Mädchen! Wir haben schon genügend Scherereien. Wir reden auf dem Boot darüber.«
Er führte sie über eine kleine Holzbrücke auf ein Dock mitten im Hafenbecken. Die anderen beiden Männer gingen schweigend hinter ihnen her. Nachdem sie eine Weile am Wasser entlanggegangen waren, kamen sie zu einer hölzernen Anlegestelle, an deren Ende ein kleines Boot vertäut war. Tony sprang an Bord und stieß die Tür zur Kajüte auf.
»Komm rein«, sagte er, »schnell.«
Lyra folgte ihm, während sie ihre Tasche betastete, um sich zu vergewissern, daß das Alethiometer noch da war. Sie hatte die Tasche keinen Augenblick losgelassen, nicht einmal, als sie im Netz gefangen gewesen war. In der langgestreckten, engen Kajüte sah sie im Schein einer von einem Haken baumelnden Laterne eine beleibte, grauhaarige Frau am Tisch sitzen und Zeitung lesen. Billys Mutter!
»Wer ist denn das?« fragte die Frau. »Doch nicht Lyra?«
»Doch, aber wir müssen sofort weg, Ma. Wir haben hier im Hafen zwei Männer getötet. Wir hielten sie für Gobbler, aber ich glaube, es waren türkische
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