Der Goldene Kompass
Händler. Sie hatten Lyra geschnappt. Frag jetzt nicht — wir besprechen das auf der Fahrt.«
»Komm her, Kind«, sagte Ma Costa.
Lyra gehorchte, halb glücklich und halb ängstlich, denn Ma Costa hatte Pranken wie Totschläger, und Lyra war sich inzwischen sicher, daß es tatsächlich das Boot der Costas gewesen war, das sie mit Roger und den anderen Collegekindern gekapert hatte. Aber die Bootsmutter nahm Lyras Gesicht sanft in die Hände, und ihr Dæmon, ein großer, grauer, wolfsähnlicher Hund, beugte sich vorsichtig zu Pantalaimon hinunter und leckte dessen Wildkatzenkopf. Ma Costa schloß Lyra in ihre mächtigen Arme und drückte sie an die Brust.
»Ich weiß zwar nicht, was du angestellt hast, aber du siehst müde aus. Du kannst im Kinderbett von Billy schlafen, aber erst mach ich dir was Heißes zu trinken. Setz dich hierher, Kind.«
Anscheinend hatte sie Lyra die Bootsentführung verziehen oder sie zumindest vergessen. Lyra rutschte auf die gepolsterte Bank hinter der blankgescheuerten Tischplatte aus Kiefernholz. Das leise Rumpeln eines Motors ließ das Boot erzittern.
»Wohin fahren wir?« fragte Lyra.
Ma Costa setzte einen Topf mit Milch auf den eisernen Herd und stocherte in der Glut, um das Feuer zu schüren.
»Fort von hier. Aber jetzt wird nicht mehr geredet. Wir unterhalten uns morgen früh.«
Dann schwieg sie, und als die Milch heiß war, goß sie sie in eine Tasse für Lyra. Sobald das Schiff ablegte, schwang sie sich an Deck, wo sie ab und zu geflüsterte Bemerkungen mit den Männern austauschte. Lyra nippte an der Milch und hob die Ecke des Rollos an, um draußen die dunklen Kais vorbeiziehen zu sehen. Ein oder zwei Minuten später schlief sie bereits wie ein Murmeltier.
Sie erwachte in einem schmalen Bett und hörte das beruhigende Rumpeln des Motors im Bauch des Schiffes. Als sie sich aufsetzen wollte, stieß sie sich den Kopf. Fluchend tastete sie nach allen Seiten und richtete sich dann erneut auf, diesmal vorsichtiger. In dem fahlen Licht, das die kleine Kabine erfüllte, konnte sie noch drei andere Kojen erkennen, alle leer und ordentlich gemacht, eine unter ihrer eigenen und die beiden anderen an der gegenüberliegenden Wand. Sie schwang sich aus dem Bett und stellte fest, daß sie nur ihre Unterwäsche trug. Die anderen Kleider und der Wolfspelzmantel lagen gefaltet am Fußende der Koje, daneben lag die Einkaufstasche. Das Alethiometer war noch da.
Rasch zog sie sich an, öffnete die Tür, trat hinaus und stand in der Kajüte mit dem Ofen, der eine angenehme Wärme verbreitete. Außer ihr war niemand in der Kajüte. Durch die Fenster sah sie auf beiden Seiten graue Nebelschwaden und ab und zu dunkle Schatten vorüberziehen, vielleicht Häuser oder Bäume.
Bevor sie an Deck gehen konnte, öffnete sich die Außentür, und Ma Costa stieg herunter, eingewickelt in einen alten Tweedmantel, auf dem der Dunst Tausende winziger Perlen gebildet hatte.
»Ausgeschlafen?« rief sie und griff nach einer Bratpfanne. »Setz dich hin, ich mach dir was zum Frühstück. Steh nicht herum, dazu ist es hier drin zu eng.«
»Wo sind wir?« wollte Lyra wissen.
»Auf dem Grand Junction Canal. Du bleibst schön hier unten, Kind, wo dich keiner sieht. Ich will dich nicht an Deck sehen! Wir haben schon genug Ärger.«
Sie schnitt ein paar dünne Scheiben Speck in die Pfanne und schlug ein Ei hinein.
»Was denn für Ärger?«
»Wir werden schon damit fertig, wenn du dich raushältst.«
Und dann schwieg sie, bis Lyra aufgegessen hatte. Einmal wurde das Schiff langsamer; etwas knallte gegen die Seite, und Lyra hörte die Männer ärgerlich losbrüllen; aber dann machte jemand einen Witz, und sie lachten, die Stimmen wurden leiser, und das Boot nahm wieder Fahrt auf.
Bald daraufschwang sich Tony Costa in die Kajüte herunter. Auf seinen Kleidern glitzerten wie vorher auf denen seiner Mutter Wasserperlen, und als er seinen Wollhut über dem Ofen ausschüttelte, stoben und sprühten Tropfen nach allen Seiten.
»Was sagen wir ihr, Ma?«
»Frag sie doch zuerst. Erzählen kannst du später.«
Tony goß Kaffee in eine Blechtasse und setzte sich. Er war kräftig und hatte ein dunkles Gesicht, und erst jetzt, bei Tageslicht, sah Lyra, wie traurig und verbittert seine Miene war.
»Gut«, sagte er. »Also, Lyra, dann erzähl uns, was du in London gemacht hast. Wir dachten, die Gobbler hätten dich geholt.«
»Tja, ich habe da bei dieser Frau gewohnt…«
Stockend erinnerte sich Lyra an ihre Erlebnisse
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