Der Goldene Kompass
freiwillig zu Mrs. Coulter, deshalb ist sie ja so wertvoll. Sie müssen teilnehmen wollen, und welches Kind könnte Mrs. Coulter widerstehen? Und wenn du ihr helfen kannst, die Kinder heranzuschaffen, um so besser. Das freut mich sehr.«
Er lächelte sie an, wie Mrs. Coulter es getan hatte, als ob sie beide ein Geheimnis teilten. Lyra erwiderte sein Lächeln höflich, dann wandte er sich ab und sprach mit jemand anderem.
Lyra und Pantalaimon spürten beide das Entsetzen des anderen. Lyra wollte allein sein und mit Pantalaimon reden, sie wollte die Wohnung verlassen und nach Jordan College zurückkehren, in ihr kleines, ungepflegtes Schlafzimmer am oberen Ende der Treppe, und sie wollte Lord Asriel suchen…
Wie als Antwort auf diesen letzten Wunsch hörte sie seinen Namen. Unter dem Vorwand, sich von einer Platte auf dem Tisch ein Häppchen zu holen, machte sie einen Schritt auf eine Gruppe von Gästen zu, die sich in der Nähe unterhielten.
Ein Mann in einer purpurnen Bischofsrobe sagte gerade: »…nein, ich glaube nicht, daß Lord Asriel uns in nächster Zeit belästigt.«
»Und wo, sagten Sie, hält man ihn gefangen?«
»In der Festung Svalbard, wurde mir gesagt. Bewacht von Panserbjørne, müssen Sie wissen, von gepanzerten Bären. Schreckliche Kreaturen! Denen entkommt er nicht, und wenn er tausend Jahre alt wird. Ich denke wirklich, daß jetzt der Weg frei ist, fast frei…«
»Die letzten Experimente haben bestätigt, was ich immer glaubte — daß Staub eine Aussonderung des Prinzips des Bösen selbst ist, und…«
»Riecht das nicht nach zoroastrischer Ketzerei?«
»Was früher Ketzerei war…«
»Und wenn wir das Prinzip des Bösen isolieren könnten…«
»Svalbard, sagten Sie?«
»Gepanzerte Bären…«
»Die Oblations-Behörde…«
»Ich bin sicher, die Kinder leiden nicht…«
»Lord Asriel im Gefängnis…«
Lyra hatte genug gehört. Sie wandte sich ab und verschwand in ihrem Schlafzimmer, ohne dabei mehr Aufsehen zu erregen als die Motte Pantalaimon. Gedämpft drang der Lärm der Gesellschaft durch die geschlossene Tür.
»Also?« flüsterte sie, und Pantalaimon verwandelte sich auf ihrer Schulter in einen Stieglitz.
»Laufen wir jetzt weg?« flüsterte er zurück.
»Natürlich. Wenn wir es tun, solange so viele Leute da sind, merkt sie es vielleicht eine Weile gar nicht.«
»Aber er schon.«
Pantalaimon meinte Mrs. Coulters Dæmon. Als Lyra an den geschmeidigen goldenen Affen dachte, wurde ihr ganz übel vor Angst.
»Diesmal kämpfe ich gegen ihn«, sagte Pantalaimon tapfer. »Ich kann die Gestalt wechseln und er nicht. Ich verändere mich einfach so schnell, daß er mich nicht festhalten kann. Diesmal gewinne ich, du wirst sehen.«
Lyra nickte abwesend. Was sollte sie anziehen? Wie gelangte sie nach draußen, ohne gesehen zu werden?
»Du mußt auskundschaften«, flüsterte sie. »Sobald der Weg frei ist, rennen wir los. Sei eine Motte«, fügte sie hinzu. »Also denk dran, sobald alle abgelenkt sind…«
Sie öffnete die Tür einen Spalt, und Pantalaimon schlüpfte hinaus, ein kleiner dunkler Schatten in dem warmen rosa Licht des Korridors.
Inzwischen zog Lyra hastig die wärmsten Kleider an, die sie hatte, und stopfte weitere Kleider in eine der Tragetaschen aus Kohleseide aus dem Modegeschäft, in dem sie am Nachmittag gewesen waren. Mrs. Coulter hatte ihr Geld gegeben, als handle es sich um Süßigkeiten, und Lyra hatte das Geld zwar auch großzügig wieder ausgegeben, aber sie hatte noch einige Sovereigns übrig, die sie jetzt in die Tasche ihres dunklen Mantels aus Wolfspelz steckte. Zuletzt packte sie noch das in schwarzen Samt eingewickelte Alethiometer ein. Hatte der abscheuliche Affe es entdeckt? Mit Sicherheit, und er hatte sicher auch Mrs. Coulter davon erzählt. Wenn sie es nur besser versteckt hätte!
Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür. Glücklicherweise lag ihr Zimmer am Ende des Ganges, gleich neben dem Flur, und die meisten Gäste hielten sich in den beiden Zimmern auf der anderen Seite auf. Lyra hörte laute Stimmen, Gelächter, das gleichmäßige Rauschen der Toilette, das Klirren von Gläsern, und dann wisperte die Stimme einer Motte kaum hörbar an ihrem Ohr: »Jetzt! Schnell!«
Sie schlüpfte durch die Tür in den Flur. Im nächsten Augenblick öffnete sie die Eingangstür der Wohnung, dann war sie draußen und zog die Tür leise hinter sich zu. Mit Pantalaimon als Stieglitz auf der Schulter rannte sie die Treppe hinunter.
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