Der goldene Kuß
nüchterner Büropalast wie das Gebäude einer Versicherung, einer Krankenkasse, einer Bank oder eines Konzerns. In vielen, vielen Zimmern klappern Schreibmaschinen, müssen Lehrlinge aus der Kantine belegte Brötchen und Zigaretten holen, werden Wochenenderfahrungen ausgetauscht und stellt der Abteilungsleiter einigen Stenotypistinnen nach. Es gibt eine Hierarchie von Chefs und Programmleitern, Verwaltungsdirektoren und Mitbestimmern, Dramaturgen und Bearbeitern, eine grandiose Zusammenballung von Geist und Ideen, wo immer Neues ersonnen wird, damit der Mensch vor der Mattscheibe zufrieden ist, was nie gelingen kann.
Über allem aber thront, wie einst Zeus im Olymp die Götter dirigierend, der Intendant.
Die Laune eines Intendanten merkt man schon beim Eintritt in das Funkhaus, unten beim Portier. Wenn dieser sagt: »Dicke Luft im Stall«, dann weiß man, daß der Tag ekelhaft wird und man alles falsch macht, grundsätzlich, auch wenn es nachher richtig ist. Heißt es: »Der Alte hat sogar gegrüßt!«, dann weht Frühlingsrauschen durch die Büros, und man kann mit etwas revolutionären Vorschlägen kommen wie etwa mit der Sendung: ›Der blinde Nackte – Die Geschichte eines Regenwurmes‹.
Ein Intendant ist, wie der Chef einer Klinik, ein König in seinem Reich. Es gibt nur einen Unterschied: Wenn ein Klinikchef jemanden fehlerhaft operiert, könnte er abgelöst werden: ein Intendant, der gleiches mit seinen Zuschauern vollführt, bekommt das Bundesverdienstkreuz.
Dr. Aloys Rathberg war ein guter Intendant. Drei Dinge bewiesen es: Er hatte Philosophie mit drei Semestern Theologie zusätzlich studiert, er gehörte einer christlichen Partei an, war verheiratet und Vater von vier Kindern. Das alles bewies seine tiefe ethische Einstellung zum Leben und damit auch zur Kunst.
Und Fernsehen ist Kunst. Wer will das bezweifeln?
Im großen Funkhaus gab es einen Ausspruch Dr. Rathbergs, der unsichtbar in jedem Zimmer schwebte: »Die Moral ist die Basis der Kunst. Es gibt keine unmoralische Kunst, es gibt nur Kunst oder Schmutz!«
Ein schöner Satz, an den sich nur bei Gelegenheit zu wenige erinnerten …
An diesem Morgen, an dem Programmdirektor Theo Pelz frohgelaunt mit dem Lift aus der Tiefgarage des Funkhauses hinauf zur Eingangshalle schwebte, warnte der Portier jeden, der das Haus betrat, vor der Gewitterstimmung im 2. Stockwerk. Dort hatte Dr. Rathberg sein großes Büro mit einem zauberhaften Blick auf den Fluß. Zwei Sekretärinnen in einem Vorzimmer schirmten ihn vor allen Besuchern ab. Zur anderen Seite vom Vorzimmer war ein großer Sitzungssaal, wo die Programmbesprechungen stattfanden und alle Abteilungsleiter Blut schwitzten. Hier wurden auch die Infratest-Zahlen verlesen, das Barometer der Publikumsgunst, ermittelt durch tausendfache Umfragen. Hier wurden Sendungen hingerichtet, Schauspieler begraben, Regisseure erwürgt, Autoren zerrissen und Dramaturgen zu Zwergen hinuntergebrüllt.
Wer für Millionen Menschen arbeitet, muß hart sein.
Theo Pelz sah, als er in den Hauptlift umsteigen wollte, wie ihm der Portier zuwinkte. Er kehrte um und kam an die gläserne Loge.
»Na, Schmidke, was gibt's?«
»Der Herr Intendant hat vorhin in der Halle Dr. Bremser von der Politik I vor allen Leuten angebrüllt. Das wollte ich Ihnen nur schnell sagen.«
Pelz sah auf seine Armbanduhr. »Der Intendant ist schon im Haus? Wir haben doch erst neun Uhr.«
»Er war um acht Uhr schon hier. Ganz dicke Luft! Um elf Uhr außerplanmäßige Konferenz mit allen Abteilungsleitern und Direktoren. Wie mir Fräulein Kannegießer sagte, sind Herren des Rundfunkrates zugegen.«
Lore Kannegießer war Chefsekretärin Dr. Rathbergs. Was sie verriet, war gewissermaßen amtlich. Theo Pelz seufzte, nickte dem Portier Schmidke zu und fuhr in sein Büro. Der Rundfunkrat, dachte er. Ist in irgendeiner Sendung wieder über Gebühr gegen die Regierung gemeckert worden? Seit es in der Politik die Grünen gibt, haben alle in Bonn den Humor und den Nerv für Kritik verloren. War wohl wieder der Vogel mit seiner Mannschaft! Immer gegen Kohl …
Theo Pelz lächelte vor sich hin und riß die Tür zu seinem Vorzimmer auf. Fräulein Zischke, seine Sekretärin, erwiderte seinen forschen Morgengruß ziemlich bedrückt.
»Der Herr Intendant hat schon viermal nach Ihnen gefragt, Herr Pelz.«
Das habe ich gern, dachte Pelz und ging in sein Zimmer. Mit der Uhr in der Hand dastehen und kontrollieren, wann wir kommen. Und im übrigen haben wir
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