Der Gottesschrein
gepflasterten Gassen, die zum Tempelberg führen. Am Ende der Straße erkenne ich einen Trupp von zwanzig berittenen Mamelucken, die einen kleinen Platz überqueren und sich dann in Richtung des Haram ash-Sharif wenden.
Da ist Uthman. Und neben ihm reitet …
Nein, das kann nicht sein!
Ich raffe mein Gewand und haste die Stufen hinunter. Unvermittelt bleibe ich stehen.
Das prunkvolle saphirblaue Staatsgewand. Der weiße Turban. Das dunkle lockige Haar. Kein Zweifel, es ist Yared! Aber was will er denn kurz vor dem Mittagsgebet in der Al-Aqsa?
Beunruhigt kehre ich zu Ghiorghi zurück. »Du wartest hier auf mich.«
Bevor er sich widersetzen kann, haste ich die steilen Stufen hinauf, die zu Rabbi Eleazars Haus führen. Das Haus wirkt verfallen. Die Fensterrahmen sind so verwittert, dass kein neuer Fetzen ölgetränktes Pergament mehr daran festgenagelt werden kann, ohne dass das morsche Holz zerbricht. Vermutlich seit dem letzten Erdbeben, das das Nachbarhaus in einen Schutthaufen verwandelte, hängt die Haustür schief in den Angeln. Das Gesetz der Dhimma verbietet es den Juden, ihre Häuser ohne Erlaubnis wieder aufzubauen. Und der Firman und die notwendigen Bestechungsgelder, die dem Antrag beigelegt werden sollten, um dem Anliegen die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen, kosten oft mehr als ein neues Haus.
Ich klopfe. Während ich warte, dass mir geöffnet wird, berühre ich die silberne Mesusa, die am rechten Türpfosten befestigt ist. Darin eingefaltet steckt ein Pergament mit dem Schma Israel. ›Höre Israel: Adonai ist unser Gott, Adonai unser Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft.‹ Die Schriftkapsel ist wie ein kleiner Tempel geformt und mit dem Buchstaben Shin geschmückt, dem Symbol für Shaddai, den Allmächtigen. Sie ähnelt der Mesusa, die ich im Nachlass meines Großvaters gefunden habe. Stammt sie von demselben Silberschmied?
Von innen vernehme ich ein leises Schlurfen. Dann öffnet Rabbi Eleazar die schief hängende Tür. Als er mich erkennt, reißt er die Augen auf, als habe er eher mit dem Propheten Elija gerechnet als mit mir.
»Schalom alecha, Rabbi.«
»Schalom«, flüstert er bestürzt.
»Darf ich eintreten?«, frage ich auf Italienisch. »Ich habe eine Frage, Rabbi, und ich hoffe, dass du sie mir beantworten wirst.«
Er nickt und tritt zur Seite. »Komm herein!«
Im Arbeitszimmer, dessen Wandregale sich unter den dicken Bänden des Talmud biegen, sehen mir zwei junge Männer erwartungsvoll entgegen. Sie sind in meinem Alter, so um die dreißig.
»Alessandra, darf ich dir meine Söhne vorstellen? Yonatan kennst du ja schon. Aviram ist Rabbi am Bet Midrasch in Betlehem, eine Wegstunde von hier. Er lehrt dort die Weisheit der Kabbala. Avirams Haus steht gleich gegenüber der Geburtskirche Jesu und dem Kloster, wo der heilige Hieronymus die Bibel ins Lateinische übersetzte.«
»Che piacere! Come sta?«
»Benissimo, grazie«, antwortet Yonatan verunsichert – offenbar weiß er nicht, was er von meinem plötzlichen Erscheinen halten soll.
Ich deute auf das sorgfältig zusammengelegte Mönchsgewand, das Aviram auf den Schreibtisch gelegt hat. »Ist das der Habit meines Vaters?«
Eleazar nickt ernst, während seine Söhne mich angespannt beobachten.
»Darf ich ihn haben?«
Er übergibt mir das Gewand, als sei es eine kostbare Reliquie.
Ich streiche über den Wollstoff. Dann sehe ich Eleazar und seine Söhne an. »Was ist damals in Rom geschehen?«
»Dein Vater hat uns vor dem Scheiterhaufen bewahrt.«
»Ihr wart Conversos?«
Eleazar nickt stumm – die Erinnerung an seine Zeit als getaufter Christ ist wohl zu schmerzlich, als dass er sich mir anvertrauen wollte. Die Amtsvorgänger von Papst Martin waren den Juden gegenüber nicht so tolerant wie mein Cousin, der ihnen Glaubensfreiheit und Schutz vor den fanatischen Hetzpredigten der Franziskaner gewährte.
»Luca d’Ascoli war ein Gerechter«, hebt Eleazar zu sprechen an. »Eine moralische Instanz und das Gewissen der römischen Kirche und seines Freundes Papst Martin. Dein Vater war ein Heiliger. Die einzige Sünde, die er je begangen hat … Verzeih mir, mia cara, denn so ist es nicht gemeint! … Sein einziger Fehltritt warst du, seine Tochter.«
Ich nicke stumm, während sich mir die Kehle schmerzhaft zuschnürt und die Erinnerungen an Santa Maria sopra Minerva auf mich einstürmen. Mein Herz klopft so wie damals
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