Der Gottesschrein
Stirn andächtig an den kalten Stein gelehnt. Dann erhebt er sich, bekreuzigt sich dreimal und küsst mit geschlossenen Augen den Felsen, auf dem die Auferstehung Christi stattfand. Mit einem weißen Damasttuch reibt er über den Stein. Dann faltet er das Tuch und schiebt es unter seine Rüstung, sodass es über seinem Herzen liegt.
Als er sich schließlich zu mir umdreht, funkeln seine Augen im goldenen Schein der Öllichter – er sieht glückselig aus. »Ich weiß nicht, wie ich dir für all das hier danken soll«, gesteht er mit bebender Stimme. Seine Geste umfasst die Auferstehungsikonen an den Wänden, die Ampeln, die von der Decke hängen, den süßen Weihrauchduft, das sanfte Licht, die friedliche Stimmung.
»Das musst du nicht, Ghiorghi«, antworte ich. »Der Glanz in deinen Augen ist mir Dank genug.«
Durch die Engelskapelle folgt er mir in den Kuppelraum, wo ich mich von Fra Girolamo verabschiede. Dann verlassen wir die Grabeskirche.
»Wir werden erwartet«, flüstere ich und mache Ghiorghi auf den Dominikaner aufmerksam, der uns gefolgt ist, seit wir vor zweieinhalb Stunden die Zitadelle verlassen haben.
Der Mamelucke umfasst den Griff seines Schwertes. »Ich werde ihn …«
Ich lege ihm eine Hand auf den Arm. »Lass nur.«
Der Dominikaner hockt auf den glühend heißen Stufen der Al-Omariya-Moschee gegenüber der Grabeskirche und trägt trotz der trockenen Hitze einen wollenen Habit mit hochgezogener Kapuze. Als er uns bemerkt, stellt er geschwind eine leere Almosenschale vor sich auf die Stufen.
Ein Bettelmönch, der nicht bettelt? Ein Predigermönch, der nicht predigt? Ein frommer Christ, der nicht das Pontifikalamt des Patriarchen von Jerusalem zur Auferstehung seines Herrn und Gottes Jesus Christus besucht?, denke ich vergnügt und gehe geradewegs zu ihm hinüber.
Damit hat er nicht gerechnet. Ihm bleibt keine Zeit für eine überstürzte Flucht.
»Buon giorno, Frate!«
Er ist so überrumpelt, dass er es nicht wagt, mir in die Augen zu sehen. »Buon giorno«, nuschelt er.
Lässig werfe ich eine Goldmünze in seine hölzerne Bettelschale. »Laudetur Jesus Christus.«
Kein »In aeternum, Amen«. Nur verunsichertes Schweigen.
Dachte ich es mir! Er kennt den christlichen Gruß nicht.
Der Dominikaner weiß offenbar nicht, wie er sich mir gegenüber verhalten soll und murmelt ein scheues »Grazie!«.
Die Vorstellung, die er mir in der Rolle des demütigen Mönchs gibt, ist halb komisch, halb tragisch, und ich weiß nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll.
Er tastet nach der Almosenschale und rafft seinen Habit, um sich zu erheben.
»Un momento, Frate, per favore! Wisst Ihr, was mein Vater immer gesagt hat?«, frage ich ihn auf Italienisch, und er blickt auf. »Er hat Senecas De brevitate vitae zitiert. Sein Lieblingsbuch. ›Vivere tota vita discendum est et, quod magis fortasse miraberis, tota vita discendum est mori.‹«
Kein Zeichen des Verstehens.
»Das bedeutet auf Italienisch: ›Zu leben muss man das ganze Leben lang lernen, und, worüber du dich vielleicht noch mehr wundern wirst, man muss das ganze Leben lang lernen zu sterben.‹ Ist es nicht erstaunlich, dass er die Gedanken eines römischen Philosophen den hebräischen Weisheiten der Bibel vorgezogen hat?«
Der Frater hat verstanden, was ich gesagt habe, obwohl ich mit römischem Akzent gesprochen habe.
»Mein Vater war Dominikaner.«
Der Mönch nickt stumm.
»Der Inquisitor von Rom.«
Er senkt den Blick und schweigt.
Er weiß, wer mein Vater war! Und er weiß, wer ich bin!
Fassungslos betrachte ich den zerschlissenen Habit, den er trägt. Einen römischen Dominikanerhabit.
O Gott, kann es sein …?
Dann fasse ich mich. Ich nicke bedächtig.
»Einen friedlichen Ostersonntag!«, wünsche ich ihm. »Schalom!«
Verwirrt starrt er mir nach, bis ich mit Ghiorghi wenige Schritte weiter nach rechts in die Gassen des Muristan einbiege. Wir verbergen uns in einer Mauernische der Al-Omariya-Moschee. Als ich zurückblicke, sehe ich, wie der Mönch aufspringt, mit fliegendem Habit an der Gasse vorbeihastet und in Richtung des Souk al-Attarin verschwindet. Hat er uns unter der schwarzen Kapuze seines Skapuliers gesehen?
Ich packe Ghiorghi am Arm und zerre ihn aus der Nische. »Na komm!«
»Was hast du vor?«, keucht er, als wir durch den Muristan in Richtung des armenischen Viertels rennen. In seiner schweren Rüstung und mit dem Schwertgurt hat er Mühe, mit mir Schritt zu halten.
»Wir folgen ihm.« Wir biegen
Weitere Kostenlose Bücher