Der Gottesschrein
…
… als meine Mutter mich auf den Arm genommen, zärtlich geküsst und auf einen Dominikaner gedeutet hatte, der, umgeben von seinem Gefolge aus Mönchen, Diakonen und Priestern, am Altar die Messe zelebrierte. »Mein kleiner Schatz, das ist dein Vater, von dem ich dir schon so viel erzählt habe. Wie oft habe ich dir versprochen, dass er eines Tages zurückkehren wird nach Rom! Und schau, jetzt ist er da!«
Ehrfürchtig und ein wenig ängstlich starrte ich ihn an. Dieser mächtige Mann, vor dem alle demütig das Knie beugten und dessen tiefe Stimme durch die Kirche hallte, war mein Vater? Der lang ersehnte Vater, der in einem fernen Land gewesen war, in einer Stadt namens Konstanz, wo drei Jahre lang ein Konzil abgehalten worden war, wo er als ›Richter Gottes‹ über drei Päpste zu Gericht gesessen hatte.
Wie glücklich ich war, dass ich nun endlich einen Vater hatte – und wie traurig, als dieser Vater mich eine Stunde später entsetzt zurückstieß, auf die Knie fiel, bittere Tränen weinte und Gott um Vergebung anflehte, nachdem meine Mutter ihm in seiner Klosterzelle gestanden hatte, ich sei seine Tochter. Er konnte sich nicht zu mir bekennen, konnte mich nicht in den Arm nehmen, mich zärtlich küssen und mir sagen: ›Ich bin dein Vater. Ich hab dich lieb.‹
Wenige Tage später wurden meine Mutter und ich mit Gewalt in den Kerker der Inquisition geschleppt, und mein Vater, der Inquisitor von Rom, sollte über uns richten …
Ich vergrabe das Gesicht in seinem Habit und atme tief ein.
Nichts ist mir von ihm geblieben. Dem Vater, um dessen Liebe ich mein ganzes Leben lang vergeblich gerungen habe – nach seinem Tod habe ich ihn der Kirche zurückgegeben, der ich ihn einst entrissen hatte –, er wurde im Dominikanerhabit begraben, als wäre er noch immer Mönch. Meinetwegen hat Luca alles aufgegeben, was ihm jemals etwas bedeutete, das Priesteramt, die von seinem Freund Papst Martin vorangetriebene Karriere als päpstlicher Legat und Kardinal in Rom. Meinetwegen hat er seine heiligen Gelübde in den Wind gesprochen. Meinetwegen hat er sich blutig gegeißelt, weil er sich jene leidenschaftliche Nacht mit Adriana Colonna nicht verzeihen konnte.
Ich weiß nicht, ob er ahnte, wie schwer es für mich war, mit dieser Schuld zu leben. Was er mir geben konnte, hat er mir im Übermaß geschenkt. Sein Wissen. Die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen. Das Selbstvertrauen, aus seinem Schatten herauszutreten. Entschlossenheit. Eigensinn. Alles, nur nicht das, wonach ich mich am meisten sehnte: Geborgenheit und Liebe. Er hat mich geachtet wie einen Sohn. Nach besten Kräften gefördert. Vor Kardinälen, Herzögen und Humanisten mein Wissen und meinen Intellekt gepriesen. Ja, mein Vater war sehr stolz auf mich. Aber geliebt hat er mich nicht.
»Alessandra?« Rabbi Eleazar legt mir sanft die Hand auf den Arm. »Du bist blass. Willst du dich nicht setzen?« Er führt mich zu einem Hocker vor seinem Schreibtisch. Seine Söhne beobachten mich traurig. Sie ahnen, was in mir vorgeht.
»Wart ihr auch dort?«, quäle ich heraus – das Sprechen fällt mir schwer.
»In der Zelle neben deiner«, nickt Eleazar. »Ich habe die furchtbaren Schreie deiner Mutter gehört, als sie gefoltert wurde. Mein Gott, wie haben sie sie gequält, um ein Geständnis zu erzwingen, wer dein Vater war.«
Mein Herz krampft sich zusammen. »Ich hatte solche Angst.«
»Ich habe gehört, wie du geweint hast.« Eleazars Stimme klingt sanft und tröstlich.
»Sie haben mir so wehgetan. Sie haben mir die Kleider heruntergerissen und … und mich …« Ich kann nicht weitersprechen.
»Ich weiß, was sie dir angetan haben«, tröstet mich Rabbi Eleazar und ergreift meine Hände. Ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit erfüllt mich. »Es tut mir so leid, mein armes Kind.«
»Mein Vater hat euch aus dem Kerker der Inquistion befreit.«
»An dem Tag, als deine Mutter unter der Folter starb und er mit dir aus Rom geflohen ist, hat er mir seinen Habit gegeben, damit ich, als Mönch verkleidet, den Kerker von Santa Maria sopra Minerva verlassen konnte. Er hat uns das Leben gerettet.«
Yonatan kniet sich vor mich. »Du kannst dir vorstellen, wie erstaunt ich war, als du mir vorgestern gesagt hast, wer du bist«, gesteht er bewegt. »Der Merkfaden vor dem Felsen Morija, der Tallit, den du für Yared al-Gharnati gekauft hast, sein Geständnis, dass ihr in jener Nacht zusammen im Felsendom wart, die Gewalt der Gojim. Unser Vater wollte dich
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