Der Gottesschrein
Freund Tughan al-Uthmani gestürzt hast. Er wird alles daransetzen, dich als Emir von Al-Quds zu entmachten und dich hinrichten zu lassen.«
Er wendet sich zu mir und sieht mich eindringlich an.
»Ich bin dein Freund, Yared. Und du bist meiner. Ich brauche dich als Wesir, wenn ich Sultan werde. Und du brauchst mich als Sultan, wenn du dich weiterhin für ›Gottes vergessene Kinder‹ einsetzen willst, wie du es bisher getan hast. Freunde wie wir vertrauen einander, nicht wahr? Sie erzählen einander, was sie bewegt, was sie ängstigt, was sie in Lebensgefahr bringt. Es hat mich verletzt, dass ich das alles von Imam Yusuf erfahren musste und nicht von dir, Yared.«
»Was hat er dir erzählt?«
»Dass am Freitagmorgen an der Treppe zum Brunnen der Seelen der Merkfaden von einem Tallit entdeckt wurde. Dass am Freitagabend, kurz vor Beginn des Sabbat, außerhalb des jüdischen Viertels ein Gebetsschal gefunden wurde, der jedoch nicht zum Merkfaden passt. Dass eine junge Frau diesen Tallit bei einem Händler in der Kettenstraße gekauft hat. Dass sie in jener Nacht im Felsendom gewesen sein muss.«
Uthman entfernt sich einige Schritte, dann wendet er sich wieder zu mir um.
»Er hat keine Ahnung, wer diese junge Frau ist. Aber ich weiß es. Alessandra hat dir diesen Tallit gegeben, als ich dich zum Freitagsgebet abholen wollte. Du hast ihn auf dem Weg zur Al-Aqsa getragen. Danach verschwindet er auf ebenso mysteriöse Weise wie dein alter und wird von einem der Söhne von Rabbi Eleazar gefunden, dem Oberhaupt der jüdischen Gemeinde, den du am Nachmittag empfangen hast.«
Ich schweige.
»Arslan hat mir vorhin gesagt, dass du in jener Nacht bereit warst, die Schahada zu sprechen und zum Islam zu konvertieren. Er war dein Zeuge.«
»Ja.«
»Ihr wart jedoch nicht in der Al-Aqsa, wie er behauptet, sondern hier im Felsendom.«
»Ich war froh, dass Arslan mich begleitet hat. Ich wusste nicht, ob ich es übers Herz bringen würde, zu konvertieren. Ein Glaubensrückfall wird mit dem Tod bestraft. Dort drüben vor dem Felsen Morija habe ich gekniet und gebetet. Ich wollte meinen Frieden mit Jahwe machen. Ich wollte Arslan rufen, sobald ich bereit wäre, die Schahada zu sprechen.«
»Und?«
»Er kniete neben mir, während ich die ersten Worte des ›Ashadu an la ilaha illa-llah‹ sprach.«
»Und dann?«
»Dann erschien Alessandra.«
Ich erzähle Uthman, was in jener Nacht im Labyrinth geschehen ist.
»Du warst also mit ihr dort?«, fragt er mit tonloser Stimme.
»Ja.«
»W’Allah!«, flüstert er.
»Uthman, ich glaube nicht, dass sie den Haram ash-Sharif entweiht hat. Du kennst sie. Sie würde nichts tun, was …«
»Nein, natürlich nicht.« Uthman sieht mir in die Augen. »Nicht sie, sondern die Christusritter haben zum Schwert gegriffen und einen Kampf begonnen, der einen Muslim beinahe das Leben gekostet hätte. Sie hat Tayeb gerettet.«
»So war es.«
»Und damit hat sie sich selbst ausgeliefert.«
»Sie liebt Tayeb wie einen Bruder. Nach dem Tod ihres Geliebten ist er der Einzige, der ihr geblieben ist. Wenn er stirbt, ist sie ganz allein. Er wäre verblutet. Er schwebt noch immer in Lebensgefahr. Das Fieber steigt von Tag zu Tag. Er wird immer schwächer. Ich weiß nicht, ob er überleben wird.«
»Hast du ihr das so gesagt?«
Ich schüttele den Kopf.
Uthman schnauft. »Auf die Entweihung des Haram ash-Sharif steht die Todesstrafe. Die Kreuzritter werden hingerichtet. Aber sie war auch dort. Sie ist Christin.«
»Und ich bin Jude.«
Uthman wendet sich verzweifelt ab und birgt das Gesicht in beiden Händen. Dann sieht er mich traurig an. »Ich will dich nicht verlieren, Yared!«
»Und ich will sie nicht verlieren!«
»Du liebst sie.«
»Von ganzem Herzen.«
»Dann rette sie.«
»Wie?«
Uthman nimmt den Koran und schlägt die Fatiha auf, die erste Sure. »Sprich die Schahada, Yared. Konvertiere zum Islam, so wie du es am Freitag wolltest …«
· Alessandra ·
Kapitel 45
In Rabbi Eleazars Haus im jüdischen Viertel
Fasika, 2. Miyazya 6945
18. Dhu’l Hijja 848, 21. Nisan 5205
Ostersonntag, 28. März 1445
Elf Uhr morgens
»Rabbi, komm schnell! Vor deinem Haus liegt ein ermordeter Mamelucke!«
Zu Tode erschrocken stürze ich aus dem Haus, stolpere, so schnell ich kann, die Treppe hinunter und dränge mich durch die Reihen der tuschelnden Juden.
Es ist Ghiorghi, der mit aufgerissenen Augen gen Himmel starrt. Er liegt in seinem Blut, das sich auf den Stufen der Gasse ausbreitet.
Ich
Weitere Kostenlose Bücher