Der Gottesschrein
5205
Osterdienstag, 30. März 1445
Kurz nach ein Uhr dreißig nachts
Wie spät ist es? Ich habe länger gebraucht, als ich gedacht habe. Hoffentlich sorgt sich Alessandra nicht um mich.
Ich verlasse den Gang und steige hinab in die Wasserrinne, die nach rechts zum römischen Aquädukt führt. Vor mir öffnet sich die Zisterne. Und wenige Schritte dahinter die Höhle, wo Alessandra auf mich …
Aus der Felsnische dringt kein Lichtschimmer mehr! Ist Alessandras Kerze erloschen? Oder …? Allmächtiger Gott!
Beunruhigt beschleunige ich meine Schritte und haste mit der lodernden Fackel über den Steg durch das entgegenströmende Wasser.
Da ist der Eingang zur Höhle!
»Alessandra?«
Keine Antwort.
Ich betrete die Felsnische und bleibe entsetzt stehen.
Wo ist sie?
»Alessandra!«
Sie hat keine Nachricht hinterlassen, dass sie mir gefolgt ist.
Mein Blut gefriert zu Eis. Ein schmerzhaftes Kribbeln durchzuckt meine Glieder.
Die Tasche ist durchwühlt. Eine Fackel ist verschwunden. Ebenso die kleine Kerze, die sie mit einigen Tropfen Wachs auf dem Fels befestigt hatte.
Nur noch ein Spritzer Wachs ist geblieben. Mit zitternden Fingern berühre ich ihn. Er ist noch warm.
»Alessandra!« , schreie ich. Meine bebende Stimme hallt von den Wänden wider.
Nichts als Stille.
Wie konnte ich sie allein lassen!
Dann entdecke ich ein paar schwarze Fäden, die auf dem trüben Wasser treiben. Stammen sie von ihrem Gewand?
Lähmende Furcht raubt mir den Atem.
Ich umklammere den Griff meines Schwertes so fest, dass meine vor Kälte klammen Finger schmerzen.
Tristão muss uns gefolgt sein. Er hat Alessandra in seiner Gewalt. Wahrscheinlich ist sie verletzt und blutet und hat sich mit einem Streifen Stoff aus dem Saum ihres Gewandes verbunden. Tristão wird sie töten – aus Rache für Rodrigo und Lançarote und aus ohnmächtiger Wut, weil sie ihn exkommunizieren ließ. Er wird sie töten – wie Leonardo, Abdul Masih, Ghiorghi und Eleazar –, sobald er weiß, wo er die Bundeslade finden kann.
· Alessandra ·
Kapitel 73
Im Labyrinth des Tempelbergs
20. Dhu’l Hijja 848, 23. Nisan 5205
Osterdienstag, 30. März 1445
Kurz nach ein Uhr dreißig nachts
Tristão wirft sich mit der Schulter gegen ein Portal und schiebt es auf. Die alten Scharniere sind rostig und quietschen. Die Luft, die mir entgegenweht, ist kühl und riecht muffig nach feuchtem Sand und verrottendem Holz.
Wir sind im Gewölbe unterhalb der Al-Aqsa, das Tayeb und ich erst vor wenigen Tagen erforscht haben.
Tristão packt mich an der Schulter und zieht mich in den Raum. Dann schiebt er das Portal wieder zu und verriegelt es. Endlich nimmt er mir die Augenbinde ab.
Es ist ein gewaltiges Gewölbe, das an die Ställe Salomos erinnert, die nicht weit entfernt sind. Am südlichen Ende der Halle, wohin der Schein der Fackel nicht reicht, lag früher eines der gewaltigen Tore, durch die in der Antike die Gläubigen in den Tempel strömten. Sultan Salah ad-Din ließ es zumauern. Reste des Baumaterials – Steinquader, Sand und gebrannter Kalk – lagern dort neben einem zerlegten Holzgerüst, mehreren Leitern und etlichen Seilen.
Hinter mir führen Stufen hinauf zum Platz vor der Al-Aqsa. Der Treppenaufgang endet direkt vor dem Portal der Moschee. Hier sind Tayeb und ich heruntergestiegen, um dieses Gewölbe zu erforschen und seine gewaltige Größe in meine Skizze des Tempelbergs einzutragen.
Die Freiheit ist keine zwanzig Schritte entfernt!
Yareds Mamelucken bewachen den Tempelberg – zumindest nehme ich an, dass sie trotz der Schlacht um die Zitadelle Yareds Befehlen gehorchen. Werden die Tscherkessen mir beistehen, wenn ich entkommen kann?
»Versuch ja nicht, zu fliehen!«, warnt mich Tristão und bedroht mich mit dem Schwert.
»Woher kennst du dieses Gewölbe?«
»Am Karfreitag habe ich mich vor diesem verfluchten Tscherkessen hier versteckt, der mich verfolgt hat.«
»Arslan.«
»Sobald er in den Felsendom zurückgekehrt war, habe ich Rodrigo geholt. Lançarote hat mir geholfen, ihn aus dem Labyrinth ins Kloster auf dem Berg Zion zu bringen.« Er treibt mich vorwärts. »Weiter!«
»Wohin?«
»Dort drüben ist ein kleiner Raum. Siehst du ihn?«
»Ja.«
»Deine Grabkammer.« Er stößt mich vor sich her bis in den kleinen Raum, von dem aus wohl einst Herodes’ Tempelwächter die gewaltigen Tore bewachten. Er ist nicht groß. Fünf Schritte lang, vier Schritte breit. Die Decke ist niedrig. Fünf Handbreit über meinem Kopf.
Ich ringe
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