Der Gottesschrein
und zerreibe ihn zwischen meinen Fingern. Er riecht verrottet.
Ich atme tief durch. Sollen wir es wagen?
· Alessandra ·
Kapitel 67
Im Labyrinth des Tempelbergs
20. Dhu’l Hijja 848, 23. Nisan 5205
Osterdienstag, 30. März 1445
Kurz vor ein Uhr dreißig nachts
Wo Yared nur bleibt? Beunruhigt setze ich mich auf, lehne mich gegen die kalte Felswand und blinzele zum schmalen Eingang der Höhle.
Leise rauscht das Wasser durch den Gang. Doch kein Lichtschimmer verrät, dass er endlich zurückkommt.
Was ist bloß geschehen? Ist er verletzt?
Wie konnte ich ihn nur allein gehen lassen!
Ich atme tief durch und frage mich, ob ich ihm folgen soll. Vielleicht braucht er Hilfe. Das Schreckensbild eines eingestürzten Gewölbes, unter dem Yared schwer verletzt begraben liegt, zerrt an meinen Nerven.
Ich schließe die Augen, lausche dem Glucksen des Wassers und versuche, mich zu beruhigen. Und den reißenden Schmerz zu ignorieren, der sich in Krämpfen durch meinen Unterleib wühlt. Stöhnend lehne ich mich zurück und strecke die Beine aus.
Ein leises Plätschern lässt mich aufhorchen – Schritte im knietiefen Wasser?
Kein Lichtschimmer dringt in die Höhle. Im Gang ist es finster wie in Dantes Inferno.
Ich beuge mich vor und rufe: »Yared?«
Wo ist seine Fackel?
Keine Antwort.
»Yared!«
Die tiefe Stille macht mir Angst.
Wer ist dort?
Ein schrecklicher Gedanke raubt mir den Atem – Tristão ist Benyamin, Tayeb und Elija in die Höhle des Zedekia gefolgt und hat sie … Großer Gott!
»Benyamin?«, flüstere ich und taste nach meinem Dolch. »Bist du das?«
Die Schritte nähern sich.
Mein Herz rast.
Ich ziehe die Klinge und halte den Griff fest umklammert. Meine Hand zittert.
Das Plätschern ist schon ganz nah!
Ein Mann in weißem Gewand bleibt vor dem Eingang zur Höhle stehen und zieht sein Schwert. Dann tritt er in den Lichtschein meiner Kerze.
Es ist Tristão.
· Yared ·
Kapitel 68
Im Labyrinth des Tempelbergs
20. Dhu’l Hijja 848, 23. Nisan 5205
Osterdienstag, 30. März 1445
Kurz vor ein Uhr dreißig nachts
Ich verlasse das eingestürzte Gewölbe und betrete den Gang zum Felsendom. Nach wenigen Schritten stecke ich meine Fackel in eine Wandhalterung und steige eine Treppe hoch zu einer Kammer unterhalb des Qubbet as-Sakhra. Durch das Loch in der Decke, wo zuvor die geborstene Bodenplatte gesteckt hat, dringt ein schwacher Lichtschein zu mir herab. Ich schleiche die steilen Stufen hinauf, um einen Blick in den Kuppelsaal zu werfen.
Er wirkt still und verlassen …
… ist es aber nicht!
Schritte auf den Stufen zum Brunnen der Seelen!
Ich ducke mich hinter der geborstenen Marmorplatte und spähe zur Treppe. Einer meiner Mamelucken, der in der Kammer unter dem Morijafelsen gebetet hat, kommt die Stufen herauf. Im Arm hält er den Koran, den Uthman auf dem Geländer liegen gelassen hat.
Blickt er in meine Richtung? Hat er mich gehört?
Ich halte den Atem an.
Allmächtiger Gott! Er legt den Koran weg, umfasst den Griff seines Schwertes und kommt direkt auf mich zu!
· Alessandra ·
Kapitel 69
Im Labyrinth des Tempelbergs
20. Dhu’l Hijja 848, 23. Nisan 5205
Osterdienstag, 30. März 1445
Kurz vor ein Uhr dreißig nachts
Mit dem Schwert in der Hand betritt Tristão die Höhle.
O Gott, wo war er so lange? Was ist mit Tayeb und den anderen? Tristão kennt die Zedekia-Höhle!
Er kommt näher und bedroht mich mit der blitzenden Klinge. »Leg deinen Dolch mit beiden Händen auf den Felsen neben dir. Langsam, ganz langsam. Und versuch ja nicht, ihn nach mir zu werfen.«
Ich tue so, als würde ich gehorchen.
Ich richte mich auf, die rechte Hand mit dem Dolch unter den Falten meines Gewandes verborgen. Mit einer raschen Bewegung gleite ich ins knietiefe Wasser der Höhle, schnelle hoch und werfe mich gegen ihn. Tristão springt zur Seite, um mir auszuweichen und mir die Klinge aus der Hand zu schlagen. Ich stolpere und verliere das Gleichgewicht. Tristãos Faust trifft meine Schulter mit einer solchen Wucht, dass ich herumgerissen werde. Sein nächster Schlag schleudert mich ins aufspritzende Wasser. Dann ist er über mir. Verzweifelt versuche ich, mich aufzurichten. Immer wieder schlucke ich Wasser und ringe nach Atem. Er reißt mir den Dolch aus der Hand und bricht mir dabei fast das Handgelenk. Schreiend vor Schmerz versuche ich, mich zu befreien – doch vergeblich. Ich ziehe die Knie an und trete mit aller Kraft nach ihm.
Japsend ringt er nach Atem, beugt sich vornüber und
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