Der Gottesschrein
dachte, ihr Juden betretet den Haram ash-Sharif nicht, weil ihr fürchtet, ihr könntet auf die Stelle treten, wo sich das Allerheiligste befand.«
Um ihre Alleinherrschaft über den Haram ash-Sharif zu besiegeln, von wo aus der Prophet der Legende nach in den Himmel entrückt wurde, leugnen die Muslime, dass jemals ein jüdischer Tempel auf dem Tempelberg errichtet wurde.
Und wenn eines Tages ein mit geflügelten Cherubim verzierter Stein aus dem Tempel Salomos gefunden wird? Und wenn die Bundeslade entdeckt wird, die dem rabbinischen Glauben zufolge seit zwei Jahrtausenden in einem vergessenen Labyrinth unter dem Felsendom begraben liegt? Sie ist das Symbol des Gottesvolkes Israel und seiner Hoffnung auf den Sieg im Kampf um das Gelobte Land. Dann wird das Volk Israel aus dem Exil zurückkehren und wieder eine Nation sein. Stolz und unbesiegbar.
Ich wende mich zu Arslan um. »Warum sollten wir Juden den Tempelberg denn nicht betreten? Der Talmud gebietet Ehrfurcht vor der heiligen Stätte. Ein Jude soll den Tempel Gottes nicht mit Sandalen betreten. Und er soll sich den Staub von den Füßen waschen, bevor er in der Schechinah wandelt, in der Gegenwart Gottes.«
Arslan deutet auf den Platz vor der Moschee. »Vor der Al-Aqsa befindet sich ein Brunnen.«
»Na, dann komm!«
Vom Sturm abgerissene Blätter und kleine Zweige der uralten Olivenbäume wehen uns ins Gesicht und knistern und knacken unter meinen Füßen, als wir zum Brunnen des Kelches hinübergehen, um uns rituell zu reinigen. Ein nutzloses Unterfangen angesichts des aufwirbelnden Staubs und des Gewitterregens, der aus den Wolken niederzurauschen droht, die den Tempelberg verdunkeln.
Arslan folgt mir die Stufen hinauf zum Felsendom, unter dessen Fundament die Ruinen des Tempels begraben liegen.
Vor meinem geistigen Auge richtet sich mit Donnergetöse der Tempel Salomos wieder auf, ein Heiligtum von sechzig Ellen Länge, zwanzig Ellen Breite und dreißig Ellen Höhe. An drei Seiten umgeben von Schatzkammern, drei Stockwerke übereinander, in denen die Schätze des Tempels aufbewahrt werden. Im heiligen Saal, dessen Wände und Türflügel mit Zedernholz und Gold verkleidet und mit Cherubim, Palmetten- und Blütenornamenten verziert sind, befinden sich die Menora, der Räucheraltar und der Schaubrottisch für die zwölf Brote. Sie symbolisieren das Volk Israel. Im Westen, durch einen Vorhang abgetrennt, liegt das Allerheiligste mit dem Felsen Morija, wo Abraham nach dem Willen Gottes seinen Sohn opfern sollte, den Stammvater des Volkes Israel. Auf diesem Felsen steht die Bundeslade, die die Steintafeln mit den Geboten birgt, die Gott Moses gab.
Als die Lade ins Heiligtum gebracht wurde, so lautet eine fromme Legende, mit der mich mein Vater als Kind in den Bann schlug, da erwachten die Blütenranken an den Wänden zum Leben. Und die goldenen Bäume, die König Salomo im Tempel hatte aufstellen lassen, trugen Früchte. Das Zedernholz trieb grüne Sprosse. Und die Tragstangen der Bundeslade wuchsen derart, dass sie den Vorhang des Allerheiligsten berührten. Selbst die beiden goldenen Cherubim, die im Allerheiligsten die Lade bewachten, breiteten ihre Flügel schützend über die Schechinah, die Gegenwart Gottes …
»Yared?«, zerrt Arslan mich aus meinem imaginären Tempel. Er deutet auf den nur wenige Schritte entfernten Felsendom. »Glaubst du, dass Gott hier ist?«
»Ja, das glaube …«
Den Rest meines Bekenntnisses übertönt ein ohrenbetäubender Donnerschlag, als ob der Himmel zerbirst. Die Wolken reißen auf, und wie eine Sintflut prasselt plötzlich der eisige Regen auf uns herab.
»Bei Allah! Es hagelt Eiskristalle, groß wie Taubeneier!«, schreit Arslan. Im Tosen des niederrauschenden Eisregens kann ich ihn kaum verstehen. Er reißt die Arme hoch, um seinen Kopf vor den herunterprasselnden Hagelkörnern zu schützen, und rennt in Richtung Felsendom. Ich folge ihm.
Nass bis auf die Haut tappen wir durch das aufspritzende Wasser, das in breiten Rinnsalen durch die Abflüsse in die unterirdischen Zisternen strömt.
Dann haben wir das Portal des Felsendoms erreicht.
· Alessandra ·
Kapitel 9
Im Labyrinth des Tempelbergs
16. Dhu’l Hijja 848, 19. Nisan 5205
Karfreitag, 26. März 1445
Drei Uhr morgens
Ein Geräusch – hinter mir!
Der Hauch einer Bewegung, die angstvolle Ahnung, dass noch jemand hier ist! Meine Nackenhaare richten sich auf, und ich beginne zu zittern. Mein Atem geht beklommen, meine Nerven sind zum Zerreißen
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