Der Gottesschrein
dieser Nacht.«
»So Gott will.«
»Ja, Tayeb. Insh’Allah.«
Er umarmt mich und haucht mir einen Kuss auf die Wange. »Allah schütze dich!«
Ich atme ein paarmal tief ein, dann tauche ich unter, schwimme in die antike Wasserleitung und taste mich Armlänge um Armlänge vorwärts durch die bedrohliche Finsternis.
Ich muss achtgeben, dass ich mich dabei nicht verletze, denn der Boden der Röhre ist mit scharfkantigem Geröll bedeckt. Sind es Trümmer des zerstörten Tempels, die die Regenfluten in diesen Kanal gespült haben?
Weiter!
Das Blut rauscht in meinen Ohren, und mein Herz pocht, als wäre ich die Treppen zur Domkuppel von Santa Maria del Fiore hinaufgerannt. Ich muss Luft holen! In der Finsternis spüre ich die Furcht in mir aufsteigen.
Um Gottes willen, bleib ruhig!, denke ich, während ich mich vorwärtstaste. Keine Panik! Und keine unbedachten Bewegungen!
Quälend langsam drehe ich mich auf den Rücken und hebe den Kopf über die Wasseroberfläche, um japsend Atem zu holen. Das Wasser läuft mir über das Gesicht.
Ich atme tief und langsam durch, um mich zu beruhigen.
Tayeb hat mein Keuchen gehört. »Alles in Ordnung? Soll ich dich zurückziehen?«
»Nein, lass nur.« Ich atme tief durch. »Weiter geht’s.«
Ich tauche wieder unter und taste mich Armlänge um Armlänge durch den Kanal. Jetzt scheint er sich nach unten zu neigen. Unter die Wasseroberfläche! Großer Gott, ich kann nicht auftauchen, um Luft zu holen!
Mit einem dumpfen Brodeln steigen die Luftblasen auf.
Plötzlich spüre ich etwas an meiner Stirn!
Starr vor Entsetzen halte ich inne und wedele mit der Hand vor meinem Gesicht. Was war das? Gibt es Würmer oder kleine Krebse in dem feinen Sand, den ich aufwirbele, während ich durch den Tunnel tauche? Da, schon wieder! Irgendetwas Lebendiges krabbelt in mein rechtes Ohr. Ich schüttele mich vor Ekel.
Nur weg von hier!
Der Tunnel steigt nun wieder an.
Verdammt, wie lang ist er denn noch? Werde ich es schaffen, eine Kammer zu …
Das Seil hängt fest! Es hat sich irgendwo verfangen. Ich bin so erschrocken, dass ich beinahe Wasser geschluckt hätte! Ich zerre daran, kann es aber nicht befreien.
Wie soll ich Tayeb jetzt ein Signal geben?
Ich tauche auf, um tief durchzuatmen.
»Tayeb?«, rufe ich.
Keine Antwort.
»Tayeb!«
Er kann mich nicht mehr hören.
Was nun? Soll ich ohne seine Hilfe zurückkriechen und versuchen, das Seil zu lösen? Und dann?
Kurz entschlossen ziehe ich meinen Dolch, zerschneide das Seil und taste mich weiter durch die Röhre.
Dann – endlich! – habe ich es geschafft.
Prustend tauche ich auf und ringe keuchend nach Atem. Das Wasser reicht mir bis zur Hüfte. Immer wieder muss ich husten. Mit beiden Händen wische ich mir das nasse Haar aus dem Gesicht und blinzele.
Wie groß ist die Kammer? Ich lausche auf das Echo der Geräusche, die ich im Wasser mache, als ich mich an der rechten Wand entlangtaste. Die Zisterne muss gewaltig sein.
Da ist ein kleiner Sims! Ich nehme eine Kerze aus der mit Kork verschlossenen wasserdichten Silberdose und lehne sie gegen die Felswand, dann nestele ich nach dem Feuerzeug. Nach mehreren Versuchen gelingt es mir trotz meiner tropfnassen Finger, einen Funken in den Zunder zu schlagen und die Kerze zu entzünden.
Der nasse Docht zischt und qualmt. Die Flamme flackert, wird heller und … verlischt.
Mit vor Kälte steifen Fingern taste ich in der Finsternis nach dem Feuerstein – nur nicht ins Wasser fallen lassen! – und wage es noch einmal. Mein Vorrat an trockenem Zunder ist nicht unerschöpflich. Doch dieses Mal brennt der Docht fauchend weiter. Ich stecke das Feuerzeug ein und warte, bis ich ein wenig flüssiges Wachs auf den Fels tropfen lassen kann. Dann drücke ich die Kerze hinein, bis es hart geworden ist.
An der Flamme entzünde ich eine zweite Kerze und wate durch die Kammer, deren Ende sich in der Finsternis verliert. Wie riesig sie ist! Ich ahne, welche Wassermassen durch die Gänge schießen werden, falls sich das Gewitter über dem Tempelberg entlädt. Wir müssen so schnell wie möglich weg von hier.
Gewaltige, unregelmäßig geformte Felspfeiler, die die hohe Decke stützen, tauchen vor mir auf.
Und was ist das dort drüben in der dunklen Wandnische? Eine Treppe nach oben! So schnell ich kann, wate ich dreißig, vierzig Schritte hinüber, steige die Stufen hinauf und gelange in einen Gang, der zehn Schritte geradeaus führt und dann nach rechts abbiegt. Ich muss mich direkt unter der
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