Der Gottesschrein
gespannt.
Zu Tode erschrocken reiße ich den Dolch hoch und wirbele herum. Doch da ist niemand. Kein Christusritter im weißen Habit bedroht mich. Ich bin allein in der Tempelbibliothek.
Einige Herzschläge lang rühre ich mich nicht, wage nicht einmal zu atmen, starre mit aufgerissenen Augen in die Finsternis und lausche angestrengt in die tiefe, beunruhigende Stille. Und auf das wilde Pochen meines Herzens.
Dieses merkwürdige Geräusch … dieses dröhnende Grollen … ist verhallt. Doch woher kommt das leise Zischen, das rasch zum tosenden Rauschen anschwillt? Ist es meine Aufregung, das Erschrecken, die Angst, oder …? Großer Gott, ich ahne es!
Geschwind stecke ich den Dolch ein, nehme die Kerze, werfe einen letzten bedauernden Blick auf die an den Wänden aufgereihten Tonkrüge und die Papyrusfetzen auf dem staubigen Boden: Werde ich jemals hierher zurückkehren, um diese Schätze zu erforschen?
Dann verlasse ich die Tempelbibliothek und husche in den Korridor, der zur Zisterne zurückführt.
Das Rauschen ist lauter geworden. Bedrohlicher. Ich folge dem Geräusch, schütze die Flamme der Kerze mit der Hand und haste den Gang entlang, so schnell, dass ich auf dem unebenen Felsboden beinahe stolpere.
Dann sehe ich es! Ein Rinnsal von Wasser, das Eiskristalle mitgerissen hat, fließt aus einer Wandnische, sammelt sich in einer Vertiefung auf dem felsigen Boden des Korridors und bahnt sich seinen Weg zur Treppe, die in die Zisterne hinabführt.
So schnell ich kann, renne ich zur Nische und starre durch den schräg nach oben führenden Abfluss hinauf zur Tempelplattform. Eisiges Wasser, durchsetzt von großen Hagelkörnern, strömt mir entgegen. Gischt spritzt mir ins Gesicht. Ich muss achtgeben, dass meine Kerze nicht erlischt.
Dann ein blendender Blitz, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag, der in bedrohlichem Grollen verhallt! Und wieder ein grelles Gleißen und ein neuer Donnerhall, lauter als der letzte!
Das Gewitter hat den Tempelberg erreicht. Der niederrauschende Regen fließt über die Bodenplatten und ergießt sich in diesen Kanal, um sich in der Zisterne am Ende der Treppe zu sammeln.
Der Kanal ist zu schmal für mich, zu steil und durch die nassen Algen zu glitschig.
Das steigende Wasser wird die Gänge des unterirdischen Labyrinths unpassierbar machen! Ich muss zurück zu Tayeb!
Ich haste zur Treppe, über die das Regenwasser in die Zisterne hinunterfließt, eile die Stufen hinab, rutsche auf den Hagelkörnern aus und stürze, kann aber gerade noch rechtzeitig die Kerze retten, bevor sie verlischt. Ein Schmerz durchzuckt mein Bein. Doch ich rappele mich auf, springe die letzten Stufen hinunter und haste in die Zisterne.
Durch ein vielfaches Echo schwillt das Tosen des Regenwassers zu einem apokalyptischen Donner an.
An der Wand der Zisterne entlang wate ich durch das hüfthohe Wasser, doch ich komme nur langsam voran. Endlich kann ich zwischen den mächtigen Pfeilern des Gewölbes den schwachen Schein der zurückgelassenen Kerze erkennen.
Dreißig, vierzig Schritte kämpfe ich mich vorwärts, dann habe ich den Tunnel erreicht, den ich ohne mein ›Leuchtfeuer‹ niemals wiedergefunden hätte.
Ich lösche beide Kerzen, verstaue sie in meinem Gürtel, hole tief Luft und tauche hinab in den finsteren Kanal. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis ich schließlich den Lichtschimmer von Tayebs Fackeln am Ende des Ganges erkennen kann.
Mit letzter Kraft erreiche ich die Zisterne und tauche auf. Geblendet vom eisigen Wasser und vom grellen Licht der Fackeln schließe ich die Augen. Keuchend ringe ich nach Atem.
Erschrocken zucke ich zusammen, als ich eine Hand auf meinem Arm spüre.
Es ist Tayeb!
»Allah sei Dank! Du lebst!«, ruft er erleichtert, reißt mich ungestüm in seine Arme und küsst mich auf beide Wangen. »Ich hatte solche Angst um dich!«
»Es geht mir gut!« Den Schmerz in meinem Bein beachte ich nicht.
»Hast du einen Fluchtweg gefunden?«
Ich schüttele den Kopf und erkläre ihm hastig, dass ich stattdessen die verschollene Bibliothek des Tempels entdeckt habe. Und dass sich über dem Tempelberg ein apokalyptisches Inferno mit einem sintflutartigen Wolkenbruch entlädt. »Wir müssen so schnell wie möglich …«
Ein leises Plätschern lässt uns erschrocken herumfahren.
Ist uns Leonardos Mörder ins Labyrinth gefolgt?
»Das Wasser strömt in die Zisterne!«, ruft Tayeb aufgeregt und zeigt auf die Nische, in die zwei Gänge einmünden. Ein schmales
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