Der Gottesschrein
Rinnsal tropft an der Wand herunter und verursacht das Plätschern, das nun vernehmlich zum Rauschen anschwillt.
»Hast du nicht vorhin gesagt, dass der eine Gang, der nach Osten führt, eingestürzt ist?«, frage ich, noch ganz außer Atem, und weise auf die Nische. »Was ist mit dem anderen?«
»Keine Ahnung! Ich vermute, das Wasser fließt durch diesen zweiten Gang.«
»Y’allah! Wir haben keine Zeit zu verlieren!« Mit einer der Fackeln wate ich hinüber zur Nische, die wenige Handbreit oberhalb der Wasseroberfläche liegt.
Tayeb verschränkt seine Hände, damit ich den rechten Fuß hineinsetzen kann, und hilft mir hinauf. »Was ist mit deinem Bein? Du blutest!«
»Ich bin gestürzt!«
»Hast du Schmerzen? Soll ich dich …«
»Nein!« Ich reiche ihm die Hand, um ihn in die enge Nische zu ziehen. »Komm!«
Dann richtet er sich neben mir auf, schiebt sich an mir vorbei und geht mit erhobener Fackel voran.
Der Gang ist so niedrig, dass wir auf allen vieren durch das Wasser kriechen müssen, das uns entgegenrauscht – mit einer Fackel in den vor Kälte tauben Händen kein leichtes Unterfangen! Zuerst umspült das Regenwasser nur unsere Handgelenke, doch schnell steigt es bis zu unseren Ellbogen.
»Wenn die Fackeln verlöschen, sind wir verloren!«, murmelt Tayeb so leise, dass ich ihn in dem Tosen kaum verstehen kann.
Was ist das für ein Rauschen?
»Hörst du das?«, frage ich Tayeb, der sich vor mir durch den engen Gang schiebt.
»Es klingt wie … Allah steh uns bei!«
»Was ist?«, rufe ich.
»Ein Wasserfall! Der Regen ergießt sich von der Tempelplattform aus in einem reißenden Sturzbach in diesen Stollen. Ich kann nicht erkennen, ob der Gang hinter dem Wasserfall endet.«
Schweigend schleppen wir uns weiter durch die steigende Flut, die uns auf dem glitschigen Felsuntergrund mit sich zu reißen droht.
Wenig später haben Tayeb und ich den Wasserfall erreicht. Wir halten kurz inne und lehnen uns erschöpft gegen die Wand.
»Der Gang führt weiter nach Norden«, verkündet Tayeb. »In Richtung Felsendom.«
»Können wir durch den Wasserfall zum Plateau hinaufklettern?«, frage ich mit Blick auf die herabstürzende Kaskade.
»Ich kann nichts erkennen. Aber ich befürchte, dass der Stollen zu …« Ein lautes Donnergrollen verschluckt Tayebs Worte.
»Ich versuche es.« Entschlossen reiche ich ihm meine Fackel und zwänge mich an ihm vorbei, bis ich genau unter dem Wasserfall hocke. Ich kann nicht nach oben blicken, weil mir das Wasser schmerzhaft ins Gesicht schlägt, und halte die Augen fest geschlossen. »Hilf mir!«, keuche ich.
Mit den Händen ertaste ich einen Haufen Steine und steige darauf nach oben. Bei jedem Schritt spüre ich, wie die geborstenen Quader unter mir wegrutschen und in den engen Gang poltern. Ich keuche vor Schreck, schlucke Wasser, beginne zu husten und schlucke noch mehr Wasser.
»Komm sofort zurück!«, schreit Tayeb. »Das ist viel zu …«
»Nein!«
Mit gesenktem Kopf – das Wasser strömt mir derart über das Gesicht, dass ich kaum noch atmen kann – klettere ich durch die mir entgegenrauschende Kaskade weiter nach oben. Immer wieder rutschen Steine unter mir weg und poltern in den Gang hinunter.
Mit ausgestreckten Armen suche ich nach einem Halt. Da ist eine Nische! Trotz meiner Erschöpfung und meiner vor Kälte schmerzenden Finger gelingt es mir, mich wenige Handbreit hochzuziehen. Dort ist ein weiterer Halt für meinen rechten Fuß. Vorsichtig verlagere ich mein Gewicht. Ein stechender Schmerz durchzuckt mein verletztes Bein. Ich beiße die Zähne zusammen. Nicht aufgeben!
Quälend langsam schiebe ich mich durch den immer enger werdenden Stollen hinauf zum Abfluss in der Tempelplattform. Wie groß wird er sein? Da ist ein Halt, und da noch einer! Handbreit um Handbreit klettere ich durch den Wassersturz hinauf zur Oberfläche.
Endlich habe ich den Spalt erreicht, durch den das Wasser hereinströmt. Durch den Sturm abgerissene Olivenzweige schlagen mir ins Gesicht.
Verdammt! Der Spalt ist zu eng für mich!
Verzweifelt taste ich, so weit ich es vermag, in alle Richtungen, doch es ist sinnlos. Es gibt nur diesen einen.
Mit Gewalt schiebe ich mich noch ein Stück nach oben, doch dann stecken meine Schultern fest. Ich atme aus, strecke die Arme nach oben, um mich ganz schmal zu machen und mich durch das Loch zu zwängen – jedoch vergeblich. Ein kleiner Stein, der vom Wasser mitgerissen wird, trifft mich schmerzhaft an der Stirn oberhalb des rechten
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