Der Gottesschrein
Auges. Panik lodert in mir auf.
Dann geschieht es! Ich verliere den Halt, stürze mit dem Wasser in den Gang unter mir und schlage mit dem verletzten Bein auf. Benommen bleibe ich liegen.
Tayeb taucht mit seiner Fackel neben mir auf und zerrt mich aus der niederprasselnden Kaskade heraus in den niedrigen Gang. Dann umarmt er mich fest, streicht mir das nasse Haar aus dem Gesicht und wiegt mich wie ein kleines Kind. Zärtlich küsst er mich auf die Wange. »Ist dein Bein gebrochen?«
»Nein«, presse ich durch zusammengebissene Zähne hervor und rappele mich mühsam auf. »Ich bin nicht verletzt.«
»Du blutest. Da ist ein Riss über dem rechten Auge.«
Ich wische mir das Blut aus dem Gesicht. »Komm weiter!«
Als ich mich umwenden will, um den Gang entlangzukriechen, halte ich erschrocken inne.
»Siehst du das Licht auf der anderen Seite der Kaskade?«, flüstere ich atemlos. »In dem Gang, aus dem wir gekommen sind!«
Der Assassino?
»Das ist eine unserer Fackeln«, beruhigt mich Tayeb. »Sie steckt in einem Felsspalt. Warte, ich hole sie.«
Kurz darauf ist er zurück.
»Komm, Tayeb!« Durch das reißende Wasser krieche ich voran in Richtung Felsendom. Tayeb folgt mir.
Nach zwanzig, dreißig Schritten biegt der Gang nach rechts ab – nach Osten? –, um sich wenig später nach links – nach Norden? – zu wenden, wo er schließlich durch eine Kammer und ein vermodertes Portal in eine große Zisterne mündet. Sie hat die Form eines lateinischen Kreuzes und gemahnt an eine christliche Kathedrale mit einer Apsis und zwei großen Seitenschiffen. Direkt vor mir rauscht das Regenwasser über etliche Stufen hinab in die Basilika, deren riesiges Hauptschiff sich in der Finsternis verliert.
Liegt diese Zisterne, die wohl fünfzig oder sechzig Schritte lang ist, unter den mächtigen Fundamenten des herodianischen Tempels? Sind wir in unmittelbarer Nähe des Allerheiligsten?
»Wie tief ist das Wasser?«, fragt Tayeb misstrauisch.
Ich senke die Fackel und betrachte die reflektierende Wasseroberfläche. »Zwei Fuß. Höchstens drei.«
Er folgt mir die Treppe hinab in die unterirdische Kathedrale, deren hohes Gewölbe im Schein der Fackeln funkelt wie der Sternenhimmel. Staunend deutet Tayeb nach oben. »Was schimmert da?«
»Sieht aus wie Tropfen aus Gold. Als ob … Mein Gott!«
»Was ist?«
»Als Titus im Jahr 70 den Tempelberg eroberte, brannte der Tempel bis auf die Grundmauern nieder. Das Inferno war so vernichtend, dass die Hitze die Goldplatten schmolz, mit denen der Tempel Flavius Josephus zufolge verkleidet war. Das flüssige Gold rann in die Ritzen zwischen den Steinquadern.« Ich weise auf die schimmernden Tropfen im Gewölbe der Basilika, die wie ein byzantinisches Mosaik funkeln. »Es heißt, dass die römischen Legionäre die Ruinen des Tempels Stein für Stein abtrugen, um das geronnene Gold zu finden. Einige der tonnenschweren Blöcke, die damals über die Tempelbefestigung hinabgeworfen wurden, liegen noch immer nahe der Klagemauer, halb im Boden begraben.«
»Als Jesus den Tempel verließ, sprach er zu seinen Jüngern: ›Wahrlich, ich sage euch: Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen gelassen werden.‹ Matthäus, Kapitel 24«, erinnert sich Tayeb. »Wurde der Tempelschatz während der langen Belagerung durch Titus in diesen Kammern verborgen?«
Ich nicke. »Wo sonst? Das Gold, das Titus nach seinem Sieg über die aufständischen Juden nach Rom geschleppt hat, reichte aus, um das Colosseum zu errichten. Auf dem Titusbogen auf dem Forum Romanum sind die wichtigsten Kultgegenstände des Tempels wie die Menora, der Schaubrottisch und die Posaunen in Stein gemeißelt. Weißt du auch, was dort nicht abgebildet ist?«
»Die Bundeslade.«
»Genau!«
Tayeb starrt mich ungläubig an. »Du glaubst …?«
»Es ist möglich, dass sie seit der Zerstörung des Tempels durch die Babylonier in diesem Labyrinth verborgen ist. Wenn ich nur wüsste, was in dem aramäischen Papyrus geschrieben steht, den der Assassino gestohlen hat! Wenn er aus der Tempelbibliothek stammt, die ich vorhin entdeckt habe, könnte er uns zum größten Schatz der Menschheit führen – zum Schrein Gottes mit den Steintafeln der Zehn Gebote, die Moses auf dem Berg Sinai von Gott erhielt.«
Welch ein faszinierendes Gespinst aus Mysterien!, denke ich im Stillen. Die Tempelritter und ihr verschollener Schatz, die Christusritter, der Priesterkönig und Parzivals geheimnisvoller Gral aus Stein …
»Vermutlich hat der
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