Der Gotteswahn
»Sieh dir jedes bisschen Pseudowissenschaft an, dann wirst du immer eine Schmusedecke finden, einen Daumen zum Lutschen, einen Rockzipfel, an dem du dich festhalten kannst.« Außerdem finde ich es erstaunlich, wie viele Menschen nicht verstehen, dass »X tröstet mich« nicht »X ist wahr« bedeutet.
Ein ähnlicher Kritikpunkt betrifft das Bedürfnis nach einem »Zweck« im Leben. Dazu meinte ein kanadischer Kritiker:
Was Gott angeht, haben die Atheisten vielleicht recht. Wer weiß? Aber ob Gott oder kein Gott, eines ist klar: Irgendetwas in der Seele des Menschen braucht die Überzeugung, dass das Leben einen Zweck hat, der über die Ebene des Materiellen hinausgeht. Man würde annehmen, dass ein überdurchschnittlich rationaler Empiriker wie Dawkins diesen unveränderlichen Aspekt des menschlichen Wesens erkennt. […] Glaubt Dawkins wirklich, die Welt wäre humaner, wenn wir alle nicht mehr in der Bibel, sondern in Der Gotteswahn nach Wahrheit und Trost suchen würden?
Eigentlich schon, denn Sie gebrauchen das Wort »human«. Ja, das glaube ich, aber ich muss es noch einmal wiederholen: Dass ein Glaube trösten kann, steigert seinen Wahrheitsgehalt nicht. Natürlich kann ich das Bedürfnis nach emotionalem Trost nicht leugnen, und ich kann auch nicht behaupten, die in diesem Buch vertretene Weltanschauung habe etwa Hinterbliebenen mehr als nur einen sehr bescheidenen Trost zu bieten. Aber wenn der Trost, den die Religion anscheinend bietet, sich auf die neurologisch höchst unplausible Annahme stützt, dass wir den Tod unseres Gehirns überleben – würden wir dann wirklich dafür eintreten wollen? Ohnehin habe ich vermutlich nie bei einer Trauerfeier jemanden getroffen, der leugnen würde, dass die nichtreligiösen Teile der Zeremonie (Nachrufe oder die Lieblingsgedichte oder -musik der verstorbenen Person] bewegender waren als die Gebete.
Der britische Facharzt Dr. David Ashton schrieb mir nach seiner Lektüre von Der Gotteswahn und berichtete über einen unerwarteten Todesfall: Am Weihnachtstag 2006 war sein geliebter Sohn Luke im Alter von siebzehn Jahren gestorben. Kurz vor dem Tod des jungen Mannes hatten die beiden sehr wohlwollend über die gemeinnützige Stiftung gesprochen, die ich eingerichtet habe, um Vernunft und Naturwissenschaft zu fördern. Als Luke auf der Isle of Man beigesetzt wurde, äußerte sein Vater vor der Trauergemeinde einen Wunsch: Wer zu Lukes Andenken etwas spenden wolle, solle es an meine Stiftung schicken. Die dreißig Zahlungen, die daraufhin eingingen, summierten sich auf über 2000 Pfund, darunter mehr als 600 Pfund aus einer Sammlung in der örtlichen Dorfkneipe. Der junge Mann war offensichtlich sehr beliebt gewesen. Als ich das Programm der Trauerfeier las, war ich buchstäblich zu Tränen gerührt, obwohl ich Luke nie kennen gelernt hatte, und ich bat um die Genehmigung, es auf RichardDawkins.net wiederzugeben. Ein einsamer Flötist spielte Ellen Vallin , einen Trauergesang von der Isle of Man. Zwei Freunde sprachen Nachrufe.
Dr. Ashton selbst rezitierte das großartige Gedicht Fern Hill von Dylan Thomas (»Now as I was young and easy under the apple boughs« – es beschwört so schmerzlich die verlorene Jugend herauf). Und dann – ich halte jetzt noch den Atem an, wenn ich darüber berichte – las er die ersten Zeilen aus meinem Buch Der entzauberte Regenbogen , Zeilen, die ich selbst schon seit langem für meine eigene Beerdigung vorgesehen habe:
Wir alle müssen sterben, das heißt, wir haben Glück gehabt. Die meisten Menschen sterben nie, weil sie nie geboren werden. Die Männer und Frauen, die es rein theoretisch an meiner Statt geben könnte und die in Wirklichkeit nie das Licht der Welt erblicken werden, sind zahlreicher als die Sandkörner in der Sahara. Und unter diesen ungeborenen Geistwesen sind mit Sicherheit größere Dichter als Keats, größere Wissenschaftler als Newton. Das wissen wir, weil die Menge an Menschen, die aus unserer DNA entstehen könnten, bei weitem größer ist als die Menge der tatsächlichen Menschen. Und entgegen dieser gewaltigen Wahrscheinlichkeit gibt es gerade Sie und mich in all unserer Gewöhnlichkeit.
Wir wenigen Privilegierten haben in der Geburtslotterie gegen alle Wahrscheinlichkeit gewonnen. Wie können wir es da wagen, über unsere unvermeidliche Rückkehr in jenen früheren Zustand zu jammern, aus dem die große Mehrheit nie herausgetreten ist?
Natürlich gibt es Ausnahmen, aber ich meine, die meisten Menschen
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