Der Graben: Thriller (German Edition)
machen wie vereinbart.
Dann verließ er den Lichtschein und verschwand in der Dunkelheit.
Von der anderen Seite der Wand konnte Saeko ein leises Schluchzen hören. Die kläglichen Laute sickerten durch die Trennwand. Sie stellte sich vor, wie ihr Vater weinte, die Hände über dem Mund, geschlagen.
Endlich erstarb das Schluchzen. Schweigen hüllte den Raum ein, während Saekos Bewusstsein wieder in die Gegenwart zurückkehrte.
Der Raum sah aus wie zuvor. Das Licht brannte, und der stumm gestellte Fernseher übertrug die schon vertrauten Bilder aus den verschiedenen Teilen der Welt. Seiji saß auf der anderen Seite des Wohnzimmertischs und starrte sie an.
Saeko hatte ihren Vater oft genug davon reden hören, was er am meisten fürchtete. Es war, weiterzuleben, nachdem er seine Tochter verloren hatte. Er hatte keine Wahl gehabt, hatte seine Seele und 515 Leben für sie eingetauscht, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.
Das war die Bedeutung von Seijis Worten: Es hatte alles mit ihr angefangen. Angesichts der Frage, ob er das Böse in die Welt lassen oder seine Tochter verlieren wollte, hatte ihr Vater sich für Ersteres entschieden. Alles war geschehen, um sie zu retten, und deshalb war sie nun hier und lebte.
Sie spürte das Gewicht von 515 Leben auf den Schultern.
Ohne zu wissen, warum, hatte sie sich oft gefragt, ob sie irgendwie etwas mit dem Verschwinden ihres Vaters zu tun hatte. Sie hatte immer gewusst, dass er sie mehr liebte als alles andere auf der Welt. Ihr Vater hatte die ganze Zeit hier gelebt, bis vor einem Jahr. Er hatte hier gelebt als Kota Fujimura. Saeko kämpfte mit den Tränen, während sie sich in dem Zimmer umschaute, als sähe sie es zum ersten Mal. Lange achtzehn Jahre hatte sie gesucht und doch nichts gefunden, keine Hinweise auf das, was geschehen war. Und die ganze Zeit über hatte ihr Vater hier in Takato gelebt, nur zweihundert Kilometer von Tokio entfernt. Er hatte eine Familie großgezogen; er und Haruko hatten zusammen einen Sohn und eine Tochter.
Sie hatten ein normales Leben geführt. Saeko erinnerte sich an das seltsam vertraute Gefühl, das sie sich nicht hatte erklären können, als sie zum ersten Mal in dieses Haus gekommen war, und das sie beim Durchsehen der Fotoalben der Familie erneut verspürt hatte. Es war jedoch verständlich, wenn die Familie tatsächlich von ihrem Vater großgezogen worden war.
Sie konnte erahnen, warum er Kota Fujimura ersetzen musste. Ihre Beziehung zueinander war wie die von Materie und Antimaterie, Gott und Teufel. Ihr jetziges Zusammentreffen glich ihrem gleichzeitigen Entstehen.
Wenn man leerem Raum Energie zufügte, kam Materie heraus und hinterließ dabei ein Spiegelbild ihrer selbst, Antimaterie. Saeko fiel eine einfache Analogie dazu ein.
Betrachtete man das Universum als leeren, zweidimensionalen Raum – ein weißes Blatt Papier –, stellte dieser Zustand die einfachste Form der Symmetrie dar, ohne Raum für die Entwicklung von Materie. Fügte man dem Raum nun Energie zu, zum Beispiel, indem man mit einer Schere ein Herz aus der Mitte des Blatts ausschnitt, veränderte sich sofort der Zustand des Gleichgewichts und der Symmetrie. Die Herzform würde außerhalb der ursprünglich vorgegebenen Anzahl von Dimensionen existieren. Die spontane Zerstörung der Symmetrie konnte als Phasenübergang angesehen werden.
Das ausgeschnittene Herz würde in dem Papier eine Lücke hinterlassen, die genauso groß war wie das Herz selbst. Das Herz stellte die Materie dar, die Lücke die Antimaterie. Am Beginn des Universums existierten die gleichen Mengen von Materie und Antimaterie, doch nun wurde nur noch Erstere beobachtet. War ihr Gegenpart an einen Ort jenseits der Dimension der Zeit entschwunden? In diesem Fall würden die beiden sich nur selten begegnen. Doch wenn es durch Zufall geschah und das ausgeschnittene Herz an seinen ursprünglichen Platz zurückkehrte, würde es von außen so aussehen, als wären beide verschwunden. Die gegenseitige Zerstörung würde die gleiche enorme Energiemenge freisetzen, die ursprünglich zum Ausschneiden der Herzform benötigt wurde.
Nach derselben Logik musste ihr Vater nach Kotas Verschwinden hier leben und aufhören, Shinichiro Kuriyama zu sein.
Und doch konnte sie ihren Vater letztlich nicht wiedersehen. Er war zusammen mit seiner neuen Familie verschwunden, im Januar dieses Jahres, an dem Tag mit der erhöhten Sonnenfleckenaktivität. Warum mussten sie verschwinden? Saeko konnte sich keinen Grund
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