Der Graben: Thriller (German Edition)
der Geburt seltsam waren: Das »ji« in Seiji bedeutete »der Zweite«, als wäre er der jüngere Bruder. Doch laut der Aufzeichnungen war es umgekehrt gewesen.
»Was soll das heißen – hat es Sie nie gegeben?«, hakte sie energischer nach.
»Dieser Versager war zu nichts nütze, er ist immer vor allem davongelaufen. Hat nie irgendetwas Sinnvolles getan. Einmal, vor dreißig Jahren, ist er fortgelaufen und nie zurückgekommen. Der kleine Dreckskerl ist seit über einem Vierteljahrhundert tot. Ist verreckt wie ein Hund, ganz allein. Ich schätze, es hat nie jemand seine Leiche identifiziert, ist wahrscheinlich als unidentifizierbar abgetan worden, als Unbekannter.«
Von dem, was sie über Seiji wusste, schien die Beschreibung zumindest zu passen. Doch er saß hier, direkt vor ihr. Wie sollte sie das verstehen? Sprach sie mit einem Geist?
»Also, sagen Sie mir, was sind Sie dann?«
Saeko merkte nicht, dass ihre Stimme zitterte. Ohne sich länger von dem Fernseher ablenken zu lassen, der Bilder vom Ende der Welt übertrug, starrte sie das Ding vor sich unverwandt an. Seiji hob eine Hand, als wollte er ihren Gedanken zuvorkommen.
»Mal sehen. Du glaubst also, die Familie hätte sich in ein Wurmloch begeben und wäre entkommen, ja? Das stimmt nicht ganz. Einer von ihnen konnte nicht durch das Wurmloch reisen. Wie einer Schlange mit gestutzten Flügeln hatte man ihm seine Macht genommen. Genau, es war derjenige, der den Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte. Deshalb hatte er sich so bemüht, sich vorzubereiten, so angestrengt und so lange. Er baute eine elende kleine Hütte neben diesem Haus und ließ alles so aussehen, als ob dort Seiji lebte. Im Namen des Versagers häufte er sogar Schulden an. Nachdem er den Rest der Familie verabschiedet hatte, brauchte er nun jemanden, zu dem er werden konnte. Überleg mal: Wenn er der Einzige gewesen wäre, der zurückblieb, was glaubst du wäre dann passiert? Die Polizei hätte ihn durch den Dreck gezogen. Sie hätten ihn mit Fragen nur so bombardiert. Was haben Sie mit Ihrer Frau und Ihren Kindern gemacht? Er hätte es nicht erklären können. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als es aussehen zu lassen, als wäre die ganze Familie verschwunden, einschließlich ihm selbst. Dafür musste er jedoch die Persönlichkeit eines anderen annehmen, von jemandem, den er sich ausgedacht hatte. Von dem Tag an lebte er als Seiji.«
Plötzlich verstummte Seiji und brach den Blickkontakt ab, sodass Saeko einen Moment Zeit hatte, die Informationen zu verdauen.
Es fehlte nicht viel, und in ihrem Kopf würde es mit einem hässlichen Knall zum Kurzschluss kommen. Manchmal wurde ihr Hirn einfach taub, wenn es irgendetwas nicht verarbeiten konnte. Sie merkte gar nicht, dass sie nicht atmete. Noch einen Augenblick, und ihr Herz hätte vielleicht auch aufgehört zu schlagen.
Im Geiste wiederholte sie Seijis Worte, ein ums andere Mal. Jedes Mal kam sie zum gleichen Schluss. »Bitte nicht. Nicht Sie… Sie können nicht Papa sein«, brachte sie gepresst heraus.
Seijis Augen hingen schwer, eingesunken, mitten in seinem zerfurchten Gesicht. Er blinzelte ein paarmal, als versuchte er angestrengt, klar zu sehen. Sein Gesicht, sein Körper, die Atmosphäre, die ihn umgab, waren das genaue Gegenteil von allem, das ihr Vater gewesen war. Schon der Versuch, im Kopf die beiden Gesichter zu überlagern, drohte ihre kostbaren Erinnerungen an ihren Vater zu zerstören. Und doch deutete alles auf eine Folgerung hin.
Ihr Vater hatte ihr einmal gesagt:
Sae. Wenn wir etwas betrachten, wenden wir unsere eigenen Vorurteile auf das beobachtete Objekt an. Wir sind voreingenommen und beeinflussen damit das Objekt selbst. Der Mond ist wie der Mond, weil wir ihn so wahrnehmen. Nichts existiert vollkommen isoliert; nichts existiert unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung.
Saekos erste Eindrücke von Seiji waren geradezu katastrophal gewesen; ihr war absolut nichts Positives zu ihm eingefallen. Alles an ihm hatte an ihren Nerven gekratzt wie Fingernägel auf einer Tafel: seine schmuddelige Kleidung, das schmutzverkrustete Handtuch um seinen Hals, der unverhohlen perverse Ausdruck in seinen Augen, die Art, wie er mit seinem stieren Blick ihre Gestalt verschlang, die gräs slichen Laute, die er von sich gab. Selbst seine Stimme klang rau, als sollte sie ein einziges Ärgernis sein. Die vulgäre, anzügliche Art, wie er mit ihr redete – der Mann machte sie schon auf zehn Meter Entfernung nervös. Wenn er
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