Der Graben: Thriller (German Edition)
versuchte, sie anzufassen, zuckte sie instinktiv zurück.
Ihre Urteilskraft war von Anfang an vernebelt gewesen.
Saeko versuchte, sich von allen Vorurteilen, aller Voreingenommenheit gegenüber diesem Mann zu befreien. Sie musste ihn mit dem Herzen ansehen. Sie bemühte sich, ihren rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen.
Es gab eine Zeichnung von Escher, auf der eine Vase je nach Perspektive des Betrachters zu zwei sich gegenüberliegenden Gesichtern wurde. Als Saeko die Augen öffnete, hatte sie ein solches Aha-Erlebnis.
In diesem Moment kehrte sich alles um, was sie sah. Seijis zerfurchtes Gesicht war plötzlich voll und gesund, und über seinen kahl werdenden Kopf legten sich wieder Haare. Seine zuvor toten Augen leuchteten in einer neuen Intensität, sein krummer Rücken richtete sich gerade auf. Die für Seiji typischen Merkmale wurden durch die so wunderbar vertrauten Eigenschaften ihres Vaters ersetzt. Vor ihr saß derselbe Mann, der einst mit ihr einen Ausflug in den Radsportpark von Izu gemacht und anhand der Fahrräder die Eigenschaften menschengemachter Produkte erläutert hatte; derselbe Mann, der mit ihr auf dem Wohnzimmersofa gesessen und ihr etwas über die Struktur der Materie beigebracht hatte, über die grundlegenden physikalischen Strukturen der Welt; derselbe Mann, der mit ihr an Sommertagen angeln gegangen war und sie mit auf Reisen um die Welt genommen hatte, auf Exkursionen, die er »Forschungsreisen« genannt hatte .
Shinichiros Augen flossen über vor gütiger Liebe. Er zog einen Mundwinkel herab, wie er es immer tat, und sagte: »Sae, es ist lange her. Wie ist es dir ergangen?«
Saeko brach in Tränen aus, sank mit dem Oberkörper auf den Tisch und schluchzte hemmungslos. Jeder glückliche Moment, den sie je mit ihrem Vater erlebt hatte, zog vor ihrem inneren Auge vorüber, und endlich fanden ihre Gefühle ein Ventil. Sie weinte, bis sie schließlich keine Tränen mehr hatte. Dann betete sie, dass dieses Bild, das sie eben von ihrem Vater gesehen hatte, noch da war, und schaute auf.
Aber das Gesicht, das ihren Blick erwiderte, war Seijis. Wie sehr sie auch versuchte, sich zu konzentrieren, das Bild ihres Vaters kehrte nicht zurück. Und doch hatte sich ein Ausdruck der Ruhe auf das Gesicht gelegt, das Saeko so abstoßend gefunden hatte.
Ihr Vater hatte nicht nur die Trennung von ihr ertragen müssen. Im Januar hatte er sich für immer von seiner Frau und seinen Kindern verabschiedet, die achtzehn Jahre lang seine Familie gewesen waren. Zweimal war er von den Menschen fortgerissen worden, die er liebte.
Saeko stand auf und ging langsam zu Seiji hinüber. Das also war von ihrem Vater übrig geblieben, nachdem er so tief gefallen war. Er war für seine Entscheidung bestraft worden, die Zukunft eines Lebens der Zukunft allen Lebens vorzuziehen. Doch jetzt konnte Saeko es deutlich erkennen: Wie sehr er sich auch verändert hatte, ihr Vater war immer noch ihr Vater. Es kam nicht infrage, dass sie ihn im Stich ließ, wenn das Ende der Welt gekommen war.
Saeko passte auf, dass sie ihm nicht die Krücken vom Schoss schob, als sie sich vorbeugte und die Arme um ihn legte. Den widerlichen Geruch, seine raue Haut registrierte sie kaum.
»Lass uns zusammen gehen, Papa«, raunte sie ihm ins Ohr, ohne auf die heraussprießenden Haare zu achten.
»Geh allein. Das Wurmloch öffnet sich ungefähr zehn Kilometer südlich von hier. Es bleibt keine Zeit mehr.«
Saeko wusste bereits, dass es nicht weit südlich vom Haus d er Fujimuras einen Ort mit seltsamen physikalischen Eige nschaften gab. Zwölf Kilometer südlich an der Straße von Akiba, der 152, gab es einen Gebirgspass, an dem sich ein Nullpunkt des Erdmagnetfelds befand. Er war in ganz Japan sehr bekannt, und in zwei der Vermisstenfälle, die sie für die Fernsehsendung untersucht hatten, waren die Personen dort verschwunden.
Denk daran, Sae, dass Zahlen keine gerade Linie ohne Lücken dazwischen bilden. Die Zahlenreihe hat überall Löcher, sie ist voll davon. Die Löcher bestehen aus den irrationalen Zahlen – den unruhigen, rebellischen. Denen, die unendlich viele willkürliche Dezimalstellen haben. Dann ist da noch die Null. Die Null ist der Abgrund, ein bodenloses schwarzes Loch.
»Wenn das Magnetfeld eine Nullstelle hat…«
Seiji nickte langsam. Dort würde sich das Wurmloch öffnen. Seiji schnalzte mit der Zunge und presste das Knie gegen Saekos Taille.
»Jetzt mach, dass du hier wegkommst. Ich habe alles gesagt. Geh und räum
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