Der Graben: Thriller (German Edition)
dafür vorstellen. Nur Seiji wusste die Antwort.
»Warum? Warum mussten die Fujimuras verschwinden?«
Sie versuchte, in Seijis Mimik irgendeinen Hinweis darauf zu entdecken, was geschehen sein konnte. Ihr fiel auf, dass sein Gesichtsausdruck sich irgendwie verändert hatte. Der giftige Blick war vollkommen verschwunden, und seine Augen sahen ruhiger aus. Es war, als betrachtete sie einen anderen Menschen.
»Sie wussten von der nahenden Katastrophe. Im Januar sagten sie voraus, dass das Universum dieses Jahr nicht überdauern würde. Glücklicherweise wussten sie, wo sie nach einem sich öffnenden Wurmloch Ausschau halten mussten. Sie fassten den Plan, in eine entfernte Vergangenheit zu reisen, falls der Phasenübergang eintrat. Das einzige Problem war der willkürliche Charakter des Wurmlochs. Selbst wenn es ihnen gelang, in die Öffnung vorzustoßen und mit Erfolg in der Zeit zurückzureisen, hätten sie keine Möglichkeit zu steuern, wohin oder in welche Zeit sie transportiert wurden.
Im Augenblick des Phasenübergangs ist es, als finge die Luft um einen herum an zu kochen. Dann bleibt keine Zeit mehr für Entscheidungen. Der Zufall entscheidet darüber, ob jemand in einem verhungernden Volk landet oder mitten in einem Kriegsgebiet. Sie verfügten über das nötige Wissen, um dem Phasenübergang zu entkommen, doch sie hatten keine Garantie, dass ihr Weg keine Abkürzung in den Höllenschlund sein würde. Daher beschlossen sie zu versuchen, die Reise schon vorzeitig anzutreten. Ihnen war klar, dass Sonnenfleckenaktivitäten und Veränderungen des Magnetfelds es ermöglichten, grob abzuschätzen, wohin und in welche Zeit ein Wurmloch sie versetzen würde. Unzählige Male haben sie zusammengesessen und diskutiert, ob es besser wäre, auf den Phasenübergang zu warten.«
Das war es also. Deshalb war ihr das Familienfoto auf der letzten Seite des Albums so seltsam vorgekommen, wie ein Gedenkfoto. Da hatten sie schon die Entscheidung getroffen, diese Welt hinter sich zu lassen, und warteten nur auf den richtigen Zeitpunkt, die richtigen Bedingungen. Jener Tag war am 22. Januar gekommen. Da ihnen nur begrenzte Zeit blieb, rafften sie zusammen, was sie konnten, und stürzten an den Platz, an dem sie das Wurmloch erwarteten.
Endlich war klar, auf welche Weise die Fujimuras aus dieser Welt verschwunden waren. Sie waren vor dem Eintritt des Phasenübergangs aus freien Stücken gegangen.
In diesem Moment erregte irgendetwas auf dem Fernsehschirm in der Ecke Saekos Aufmerksamkeit. Sie war so tief in Gedanken versunken gewesen, dass sie die katastrophalen Phänomene, die diese Welt heimsuchten, fast vergessen hatte. Das Bild zeigte Kalifornien bei Tagesanbruch. Der Riss im Boden schien weiterhin länger zu werden. Der Ton war noch abgestellt, doch Saeko konnte sich ungefähr denken, was die zunehmend hysterische Reporterin auf dem Bildschirm sagte. Ein unsichtbarer Chirurg setzte ein riesiges Skalpell an der Erde selbst an und verlängerte den Einschnitt langsam, aber sicher. Wenn er San Francisco erreichte, war es nur eine Frage der Zeit, dass er sich bis zum Pazifik erstreckte. Würde er auch den Ozean in zwei Teile zerschneiden? Oder würde sich das Meer in den Abgrund ergießen und ins Landesinnere strömen? Es war schwer zu sagen, wie der Spalt zusammen mit Wasser reagieren würde.
Plötzlich wechselte das Bild und zeigte nun Kalkutta zur Abenddämmerung. Die fünf Lichtscheiben hingen immer noch am Himmel und schienen noch heller zu leuchten, wirkten geheimnisvoll, ja göttlich.
Das Licht des Fernsehers warf Schatten auf Seijis Gesicht. Er hatte den Blick abgewandt, schaute in die Ferne.
Aber warum ist Seiji hier?
Die Frage lag so nahe, dass Saeko sich wunderte, warum sie nicht früher darauf gekommen war. Ihr Vater hatte einen Pakt mit Kota geschlossen. Wo tauchte Seiji dabei auf? Wie konnte der Vagabund, der die Familie verfolgte wie eine Plage, in die Sache verwickelt werden? Kota war derjenige mit der dritten Brustwarze, nicht Seiji, dessen ganze Existenz überflüssig zu sein schien.
»Wer sind Sie?«
»Den gibt es nicht«, erwiderte Seiji, als hätte Saeko nach jemand anderem gefragt.
»Sie… existieren gar nicht?«
Bei ihren Nachforschungen über die Familie Fujimura hatte Saeko gewissenhaft den Familienstammbaum studiert. Sein Name hatte darin gestanden, ganz eindeutig. Seiji, der ältere Bruder, sechs Jahre vor Kota geboren. Damals war Saeko aufgefallen, dass die Namen hinsichtlich der Reihenfolge
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