Der Graben: Thriller (German Edition)
Saekos Vater im Esszimmer.
Nur Kota redete, während ihr Vater schweigend zuhörte. Kota saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden, an die Wand des Wohnzimmers gelehnt. Ihr Vater war im Halbdunkel verborgen, doch sie stellte sich vor, dass er sich ebenfalls an die Wand lehnte. Beide saßen Rücken an Rücken, in verschiedenen Räumen, doch mit nur einer dünnen Trennwand zwischen sich.
Ein einzelnes Licht schien im ansonsten dunklen Wohnzimmer von der Decke, ein Strahler, der Kota von oben beleuchtete. Saekos Vorstellung war dreidimensional, wie ein Hologramm, doch das Licht war schwach und diffus, die Umrisse verschwommen. Kotas Gesichtsausdruck konnte sie nicht erkennen. Sein Ton wechselte sprunghaft zwischen förmlich und zwanglos; auch der Inhalt seiner Worte wirkte sehr widersprüchlich, war mal höflich, mal beleidigend, mal resigniert, dann wieder aufgebracht. In einem Moment sprach Kota laut und spöttisch, im nächsten so leise, dass man ihn kaum verstehen konnte, wurde plötzlich ernster, fast feierlich. Diese willkürlichen Sprünge erweckten in Saeko ein tiefes Unbehagen.
Die Nacht war still, und nur das leise Murmeln von Kotas Monolog war zu hören:
Sie sollten dankbar sein. Ich meine, wenn Sie nicht wollen, sagen Sie einfach nein. Obwohl ich nicht glaube, dass Sie dazu fähig sind…
Ich muss allerdings sagen, ich finde, ich habe verdammtes Glück. Ihnen so zu begegnen. Es hat sich gelohnt, den Köder auszuwerfen. Ich würde ungern den Rest meines Lebens an diesem Ort verbringen, an diesem drögen Ort, an dem ich nichts erreichen kann als Schlange, der man die Flügel genommen hat. Doch jetzt sind Sie da, und endlich kann ich entfliehen. Ich kann mir meine Flügel zurückholen, fliegen, so hoch ich will. Für Sie ist das auch nicht so übel. Wenn Sie mir nicht begegnet wären, hätten Sie vom Tod eines geliebten Menschen erfahren. Wir haben also beide etwas davon.
Sie wissen, wovon ich rede. Wenn Sie sich entschließen, nichts zu tun, wird Ihre hübsche, süße kleine Tochter morgen früh sterben. Sie macht sich auf den Weg zur Bibliothek, und dann kommt aus dem Nichts ein Lastwagen mit überhöhter Geschwindigkeit. Sie wird, noch halb lebendig, ein paar Hundert Meter weit unter den Rädern mitgeschleift. Was für ein grauenhafter Anblick, so in Stücke gerissen zu werden. Es gibt nur eine Möglichkeit, dieses Schicksal abzuwenden.
Lassen Sie den United-Airlines-Flug 323 abstürzen, der vom Flughafen Charles de Gaulle in Paris gestartet ist.
Gucken Sie nicht so erstaunt. Das Leben Ihrer Tochter und der Flug UA323 sind durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden, sie hängen zusammen. Das eine zu nehmen bedeutet, das andere zu verlieren. Sie wissen sehr gut, wie die Welt strukturiert ist – Sie wissen von den Beziehungen, die hinter allem existieren.
Wir müssen lediglich eine Vereinbarung treffen. Einen Vertrag abschließen, wenn Sie so wollen. Sie geben mir Ihre Kräfte. Ich rette Ihre Tochter. Und als Belohnung bekommen Sie einen hübschen kleinen Preis namens Haruko.
Wenn es das ist, was Sie wollen, na schön. Ich halte Sie nicht auf.
Saeko hatte das Gefühl, ihr Herz müsste zerspringen, und sie strich sich über die Brust. War es so gewesen? Sie hatte tatsächlich einen Artikel darüber gelesen, dass der Flug UA323 abgestürzt war; es hatte geheißen, dass alle 515 Passagiere an Bord vermutlich tot seien. Doch sie hatte keine Ahnung gehabt, dass sie selbst zum Tode verdammt gewesen wäre, wenn die 515 nicht umgekommen wären. Hätte ihr Vater sie am Abend zuvor angerufen – um acht Uhr, wie immer –, dann wäre sie in der Tat am nächsten Tag in die Bibliothek gegangen. Er hatte nicht angerufen, sie hatte sich Sorgen gemacht, und daher hatte sich ihr Tagesablauf geändert.
Saeko ertappte sich oft bei der Frage, was geschehen wäre, wenn sie sich anders entschieden hätte. Was, wenn Hashiba den Knoten nicht entdeckt hätte? Dann hätten sie miteinander geschlafen, und das hätte den weiteren Verlauf ihres Lebens erheblich verändert. Genauso war es mit ihrem Vater. Wenn er Haruko an jenem Abend in Narita nicht umarmt hätte, dann hätte er nie von Kotas dritter Brustwarze erfahren. Er wäre nicht nach Takato gefahren und hätte nicht über Leben oder Tod seiner Tochter entscheiden müssen.
Ein heiseres Lachen drang an ihr Ohr. Wieder hörte sie Kotas Stimme:
Die Anzahl der Leute? Warum jetzt darauf herumreiten? Haben Sie das Ganze falsch verstanden? Das unsichtbare Band
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