Der Graben: Thriller (German Edition)
angerufen, damit sie zu ihnen kamen. Sie hatten ausgewählt, wen sie mitnehmen wollten, und Hashiba musste das Gleiche getan haben. Wahrscheinlich hatte er sich von seiner Frau und seinem Kind weggestohlen, um sie anzurufen.
»Okay, versuch, dich zu beruhigen«, sagte sie. »Kannst du mir noch einmal sagen, was los ist? Ich bin nicht sicher, ob das Telefon hier noch lange durchhält.« Die Verbindung wurde bereits durch die besonderen magnetischen Eigenschaften des Ortes beeinträchtigt. Sie mussten ihre Zeit gut nutzen.
In festerem Ton erklärte Hashiba ihr alles über das alte Grab von Machu Picchu und die Zahlen der Toten, die genau mit der Anzahl der Leute im Park übereinstimmte. Er fürchte, dass sie auf ein Massaker zusteuerten. Als er fertig war, hatte er sich wieder so weit gefangen, dass er nicht mehr nur an sich dachte. »Und du, geht es dir gut?«, fragte er.
Saeko bezweifelte, dass sie auch nur versuchen sollte, ihm die Umstände zu erläutern, unter denen sie wieder mit ihrem Vater vereint worden war. Im Übrigen war die Zeit zu knapp dafür. Also teilte sie Hashiba nur mit, dass sie sich am Nullpunkt des Erdmagnetfelds am Bungui-Pass befand, wo sich ein Wurmloch öffnen sollte.
»Bist du sicher, das ist der richtige Ort?«, drängte Hashiba.
»Ganz bestimmt.«
»Wohin wird es dich bringen?«
»Das weiß Gott allein. Du bist derjenige, um den wir uns Sorgen machen müssen.«
»Was soll ich tun?«
»Du solltest hindurchgehen.«
»Auch wenn mich ein grausames Schicksal erwartet?«
»Wenn du stirbst, ist alles vorbei. Dann hast du nicht einmal mehr die Chance, mit einem grausamen Schicksal fertigzuwerden.«
»Aber es wäre nicht so schmerzhaft.«
»Es geht nicht darum, ob du leidest oder nicht. Wenn sich dir ein Weg öffnet, musst du ihn gehen. Das ist das Gesetz des Lebens.«
»Kann man so sagen, aber…«
»Ist das nicht alles, was das Leben seit der Entstehung der ersten Organismen getan hat? Was glaubst du, wie es für die Geschöpfe war, die als Erste aus dem Meer an Land kamen? Die sich als Erste in die Lüfte schwangen? Sie alle mussten in einer grausamen, unerbittlichen Umwelt um ihr Überleben kämpfen. Genauso ergeht es uns. Wir haben die höchsten Berge bestiegen und in der Arktis gelebt. Überall, wo Platz ist, haben wir uns ausgebreitet. Wir können nicht stehen bleiben oder nachlassen. Wir sind dazu bestimmt, voranzuschreiten.«
Die Worte waren für Hashiba bestimmt, doch Saeko bekam zunehmend das Gefühl, dass sie ihr selbst halfen. Selbst jetzt war ihr bewusst, dass sie den Mut, so zu reden, der Erziehung ihres Vaters verdankte. Er hatte sie dies gelehrt, und nun gab sie seine Lehren weiter. Der Gedanke half ihr, selbst wieder Mut zu fassen.
»Das mit dem Lebenszweck ist ja schön und gut, aber…«
Sie hatte keine Zeit für Hashibas Gejammer, also unterbrach sie ihn mitten im Satz. »Hör zu. Wir stecken nicht in einer einzigen Geschichte fest. Das denkst du vielleicht, aber es stimmt nicht. Nur einen Millimeter entfernt könnten unzählige andere Universen liegen. Es kann sein, dass in dieser Welt vor 500 Jahren in Machu Picchu 173 Menschen getötet wurden. Es kann sein, dass ihnen die Gliedmaßen abgetrennt wurden. Aber wo du hingehst, hast du die Macht, deine Zukunft zu ändern. Weil du dort bist, entspringt daraus eine andere Welt. Denk mal darüber nach. Du weißt, was geschehen wird; daher bist du im Vorteil. Du kannst dich vorbereiten und einen Ausweg finden. Überleg dir einen, nun da du die grausigen Fakten kennst. Arbeitet zusammen, findet die Lücke und erweitert sie mit aller Kraft, dann wird die Welt sich ändern, aber nicht, wenn du Angst hast und kneifst. Also geh und sei tapfer.«
Schweigen folgte ihren Worten. Sie konnte hören, wie Hashiba am anderen Ende der Leitung versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Endlich antwortete er mit schmerzerfüllter Stimme. »Du hast recht. Ich mache es, ich gehe. Ich muss. Kann ich dich eins fragen? Woher nimmst du eigentlich deine Kraft, Saeko? Was ist das Geheimnis?«
Ich bin nicht stark, ich habe auch Angst , dachte sie, aber ich will einfach wissen, wie die Dinge funktionieren, und meine Neugier treibt mich an.
Als sie den Mund zum Sprechen öffnete, hörte sie plötzlich nur noch Störgeräusche. Saeko versuchte, Hashiba zurückzurufen, doch vergeblich.
Sie hatten nicht einmal die Chance gehabt, sich voneinan der zu verabschieden. Saeko empfand die schreckliche Einsam keit stärker denn je. In der
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