Der Graben: Thriller (German Edition)
er in den Händen hielt, ein neues Leben zu schenken.
Diese Geburt war ein extrem seltener Fall; er wusste, dass sie innerhalb und außerhalb der Klinik große Aufmerksamkeit erregen würde. Kaiserschnitte waren heutzutage Routine, doch in diesem Fall war die Mutter schon tot gewesen, als er die Gebärmutter geöffnet hatte. Es war nicht nötig, dies zu überprüfen; ihre Hirntätigkeit war ausgefallen, bevor die Operation begann, und schließlich hatte auch ihr Puls aufgehört. Es gelang nur äußerst selten, unter solchen Umständen ein Kind zu retten.
Das Kind, dessen Nabelschnur jetzt durchtrennt werden sollte, war aus der Gebärmutter einer Toten geholt worden.
Shinichiro Kuriyama tigerte rastlos in den Fluren des Krankenhauses auf und ab; er hielt es nicht aus, im Wartezimmer zu sitzen. Immer wieder schaute er auf seine Armbanduhr und sagte sich die Zeit vor, um sich zu beruhigen. Es war 7:42:21 Uhr am 15. Mai 1977.
Ohne es zu merken, schritt er weiter auf und ab, da er es nicht ertrug, so zum Warten verdammt zu sein. Er hatte schon seine Frau verloren. Die Vorstellung, auch noch sein Kind zu verlieren, war zu viel. Bei dem bloßen Gedanken tat ihm alles weh.
Er wusste nicht einmal genau, wie er sich fühlen sollte, wenn er erfuhr, dass sein Kind gerettet worden war. Seine Frau war tot. Er wusste, dass Freude und Verzweiflung sich nicht gegenseitig aufheben würden. Die Verzweiflung würde die Oberhand gewinnen, zweifellos. Mehr noch, er empfand einen bitteren Hass, den er gegen nichts und niemanden richten konnte; seine Wut suchte brodelnd nach einem Ventil. Er ballte eine Hand zur Faust und schlug damit frustriert gegen die Wand der Klinik.
Er spürte, dass das Wissen ihn wahnsinnig machen würde. Der Jugendliche namens Seiji Fujimura hatte nur die Beine gebrochen und würde überleben. Er war hier, in diesem Moment, lag in derselben Klinik. Er würde im Bett liegen, mit eingegipsten Beinen. Sein Gesicht hatte Shinichiro nicht gesehen und wollte dies auch nicht. Falls er dem Mann noch einmal begegnete, wusste er nicht, wozu er fähig wäre.
Es gelang ihm einfach nicht, den Unfall als Verkettung unglücklicher Umstände abzutun. Das Baby sollte bald zur Welt kommen, und seine Frau war wie jeden Tag spazieren gegangen. Der Mann, der vom Dach eines Gebäudes herabstürzte, hatte sie mit voller Wucht getroffen, sodass sie mit dem Kopf auf das Pflaster geknallt war. Im Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus war klar geworden, dass sie ein schweres Hirntrauma erlitten hatte.
Sie waren so glücklich gewesen wie noch nie, sie würden bald ein Kind miteinander haben und machten gerade einen Ausflug nach Atami mit seinen heißen Quellen. Dann war dieser Mann vom Himmel gefallen. Seiji Fujimura war auf Shinichiros Frau herabgestürzt, hatte ihr das Leben genommen und dadurch grausamerweise das seine gerettet. Ihr Körper war zum Polster geworden, das ihn vor dem Tod bewahrte, den er sich gewünscht hatte.
Als der Arzt ihm sagte, der Hirntod sei unabwendbar, hatte er sich entscheiden müssen. Setzte er seine Hoffnungen darauf, dass seine Frau sich wieder erholte? Oder sollte er dafür sorgen, dass alles Nötige getan wurde, um das Baby zu retten? Nach langer, reiflicher Überlegung entschied er, dass sie versuchen mussten, das Baby zu retten. Es hätte keine Chance, wenn seine Mutter starb, während die Ärzte sie zu retten versuchten.
Sind sie fertig mit der Operation?
Shinichiro lehnte sich an die Wand im Krankenhaus und betete, wünschte, das Baby möge überleben. Wenn alles gut gegangen war, würde das Baby den Übergang aus einem toten Körper in ein neues, eigenständiges Leben schaffen. Er versuchte sich vorzustellen, wie das sein musste. Er fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, wenn die Lebensfunktionen um es herum versagten, alle Hirntätigkeit aussetzte, wenn der beruhigende Herzschlag der Mutter aufhörte. Er dachte sich, es müsse so ähnlich sein, als sähe man am Himmel einen Stern nach dem anderen verlöschen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie einsam man sich dabei fühlen musste.
Erst am vorletzten Abend hatte er mit seiner Frau am Strand gelegen und zu den Sternen emporgeschaut, das Gewicht ihres Kopfes in seinem Schoß. Aufgrund der Ultraschalluntersuchung wussten sie, dass das Baby wahrscheinlich ein Mädchen sein würde. An jenem Abend hatte seine Frau, vielleicht inspiriert durch die Sterne, gesagt, wenn es ein Mädchen werde, solle es Stella heißen. Er erinnerte sich, dass er
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