Der Graben: Thriller (German Edition)
eisigen Luft stumpften ihre Sinne gegenüber der Außenwelt ab. Allmählich spürte sie die Kälte nicht mehr. Auch ihr Hunger verschwand, und sie begann, sich merkwürdig leicht zu fühlen.
Ihre Haut fing an zu kribbeln, und sie kratzte sich an den Armen, die plötzlich juckten. Der Wind äffte ihre Bewegungen nach, ließ das Gras wogen. Sie hatte das Gefühl, unzählige Augen wären auf sie gerichtet, verborgen im Dickicht rings um die Lichtung. Als genügend dieser Tiere aufstöhnten, begann die Erde zu zittern und sich aufzutun, und in dem aufgerissenen Boden wanden sich schlangenförmige Gestalten.
Sie hatte Halluzinationen. Dies zu wissen, half Saeko, ruhig zu bleiben.
Einer der Bäume neben der Bank hatte sich gespalten, sodass die Rinde sich abschälte und eine Oberfläche freilegte, die aussah wie ein buddhistischer Stupa. Bei längerem Hinsehen begann das Grab aus Weißholz mit vereinzelten Wildblumen am unteren Rand einem verwesenden menschlichen Gesicht zu gleichen.
Im Geiste hörte sie wieder die Stimme ihres Vaters. Sie kam von dem Gesicht im Baum. Eine durchsichtige Glasscheibe schwebte zwischen ihr und dem Gesicht im Baumstamm. Darin konnte Saeko ihr eigenes Spiegelbild erkennen.
Vielleicht spiegelte die Stimme ihres Vaters, die sie sich jederzeit hatte ins Gedächtnis rufen können, um sich Mut zu machen, nichts als ihre eigenen Gedanken.
Sie konnte nicht sagen, ob der Ursprung der Stimme in ihr lag oder außerhalb von ihr. Der Bezugsrahmen wechselte rasch; einmal kam die Stimme aus ihr heraus, im nächsten Moment von außen.
Der Wind, der aus dem Tal heraufwehte, brachte eine angenehme Wärme mit sich, die sich in ihrem Körper ausbreitete und in der Bank, auf der sie saß. Die Kälte wich von ihr, sank von der Taille abwärts durch ihre Beine, um schließlich vom Boden aufgesaugt zu werden. Mit ihr verschwand das übermächtige Gefühl der Isolation und Einsamkeit.
Saeko aalte sich in diesem Wohlgefühl. Ein süßer Zitrusduft erfüllte die Luft. Sie empfand eine tiefe Ruhe, eine prickelnde Wärme und Vollkommenheit, die sie seit dem Verschwinden ihres Vaters nicht mehr verspürt hatte.
Die Lichter, die sie unten im Tal gesehen hatte, begannen zu wandern, beschrieben einen Kreis, bevor sie unmittelbar unterhalb von Saeko anhielten. Die fünf Lichtstreifen, die hinter ihr am Himmel hingen, wurden zu einem riesigen Scheinwerfer; auch sie beschrieben eine Bahn am Himmel, bis sie vor ihr still standen und sich auf einen einzigen Punkt richteten.
Saeko wunderte sich nicht, während sie die unmöglichen Bewegungen der Lichter unten und am Himmel beobachtete. Es war leicht, das Erlebnis einfach so hinzunehmen. Das waren keine Glühwürmchen. Die Lichtteilchen, die hinten herabregneten, waren Sterne. Sie lösten sich vom Horizont, beschrieben Bögen über ihr und um sie herum, um dann an einem Punkt vor ihr zusammenzukommen. Es überraschte sie, dass da draußen noch so viele waren. Sie hatte gedacht, sie wären weg, doch nun quollen sie hervor und flitzten an ihr vorbei, um sich zu einem dichten Lichtband zu formieren.
Aus einem plötzlichen Impuls heraus erhob sie sich von der Bank und machte einen kleinen Schritt nach vorn. Das Band begann, alles Licht aus der Umgebung aufzusaugen, bis außerhalb von ihm nur noch totale Finsternis herrschte. Saeko verspürte ein merkwürdiges Gefühl unterhalb ihrer Taille, und als sie nach unten griff, bemerkte sie, dass die Bank nicht mehr da war. Sie war nicht einfach nur dunkel geworden. Alles um sie herum hatte aufgehört zu existieren.
Sie trieb allein dahin, ein einzelner Körper im leeren R aum. Sie schaute auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass die Zeiger sich nicht mehr bewegten, obwohl die Uhr eben noch funktioniert hatte. Ihr Verstand bestätigte ihr, was sie schon vermutete: Irgendwie war sie, ohne es zu merken, durch den Eingang des Wurmlochs getreten.
Das zusammengeflossene Licht bildete nun einen Kreis von etwa der Größe einer Münze. Saeko sah zu, wie es sich in einen schlanken Zylinder verwandelte, der sich auf sie zu erstreckte, näher und näher kam. Dabei vergrößerte sich sein Durchmesser, dehnte sich locker in dem gekrümmten Raum aus. Lichtteilchen strömten im Bogen daraus zu ihr und verbanden sie mit dieser Leuchtkraft. Saeko konnte die Augen nicht davon abwenden, so schön war der Anblick. Entlang des leuchtenden zylindrischen Bands blitzte es zwischen dem Regen aus kleineren Teilchen immer wieder blau und violett auf. Es
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