Der Graf von Monte Christo 1
starrem Blick, wie jemand, dem plötzlich ein Gedanke kommt, der ihn erschreckt. Dann erhob er sich, faßte sich an den Kopf, schritt einige Male schnell durch den Raum und blieb wieder vor dem Bett stehen.
»Oh, oh«, murmelte er, »wer schickt mir diesen Gedanken? Da nur die Toten frei von hier fortkommen, so will ich die Stelle des Toten einnehmen.«
Und schnell, als ob er den Gedanken keine Zeit lassen wollte, diesen verzweifelten Entschluß wieder umzustoßen, beugte er sich über den Sack, öff nete ihn mit dem Messer, das Faria gemacht hatte, zog den Leichnam aus dem Sack, trug ihn in seine Zelle, legte ihn auf sein Bett, umwickelte den Kopf mit dem Leinwandfetzen, den er selbst zu benutzen pfl egte, deckte ihn mit der Decke zu, küßte noch ein letztes Mal die eisige Stirn und wandte das Gesicht nach der Mauer, damit der Schließer, wenn er das Abendbrot brachte, glauben sollte, daß er sich, wie er oft zu tun pfl egte, zu Bett gelegt habe. Dann stieg er wieder in den Gang, zog das Bett an die Mauer, kehrte in die andere Zelle zurück, nahm aus dem Schrank Nadel und Faden, warf seine Lumpen ab, damit man sein nacktes Fleisch unter der Leinwand fühlte, kroch in den Sack, nahm die Lage an, die vorher der Leichnam gehabt hatte, und nähte den Sack von innen zu.
Wäre man in diesem Augenblick in die Zelle getreten, so hätte man sein Herz klopfen hören.
Dantès hätte wohl bis nach der Abendrunde warten können, aber er fürchtete, daß der Gouverneur sich anders besänne und man den Leichnam früher holen könnte.
Auf alle Fälle stand jetzt sein Plan fest.
Wenn die Totengräber während des Transports erkannten, daß sie einen Lebenden statt eines Toten trugen, so wollte er ihnen keine Zeit zum Besinnen lassen, sondern mit einem kräftigen Messer-schnitt den Sack von oben bis unten öff nen, ihren Schrecken benutzen und entweichen; sollten sie ihn festhalten wollen, so wollte er von seinem Messer Gebrauch machen.
Wenn man ihn auf den Kirchhof brächte und in ein Grab legte, so wollte er sich mit Erde bedecken lassen und dann, da es Nacht war, sofort nach dem Weggang der Totengräber sich einen Weg durch die weiche Erde bahnen und entfl iehen; er hoff te, daß das Gewicht nicht so groß sein werde, daß er sich nicht erheben könnte.
Täuschte er sich und wäre im Gegenteil die Erde zu schwer, so stürbe er, und alles wäre zu Ende.
Dantès hatte seit gestern abend nichts gegessen, aber er hatte am Morgen nicht ans Essen gedacht und dachte auch jetzt nicht daran.
Seine Lage war zu bedenklich, als daß er noch Zeit gehabt hätte, an etwas anderes zu denken.
Die erste Gefahr für Dantès bestand darin, daß der Schließer, wenn dieser ihm um sieben Uhr sein Essen brachte, die Vertauschung bemerken konnte. Zum Glück hatte er früher oft im Bett gelegen, wenn der Wärter kam, und in diesem Falle setzte der Mann gewöhnlich Brot und Suppe auf den Tisch und entfernte sich wieder, ohne ein Wort zu sprechen.
Diesmal aber konnte der Schließer von seiner Gewohnheit abweichen, mit dem Gefangenen sprechen und, wenn dieser keine Antwort gab, an das Bett herantreten; dann war alles entdeckt.
Als die siebente Abendstunde herankam, begann die schlimmste Angst des jungen Mannes. Die eine Hand preßte er aufs Herz und versuchte die Schläge zu mäßigen, mit der andern wischte er sich den Schweiß vom Gesicht. Von Zeit zu Zeit ergriff ein Zittern seinen ganzen Körper; es war ihm, als ob sein Herz in einem eisigen Schraubstock zusammengepreßt würde und er sterben müßte.
Die Stunden verstrichen, ohne daß irgendeine Bewegung im Schloß bemerkbar wurde, und Dantès erkannte, daß er der ersten Gefahr entronnen war; das war eine gute Vorbedeutung. Endlich, um die vom Gouverneur bestimmte Zeit, ließen sich Schritte auf der Treppe vernehmen. Edmund erkannte, daß der Augenblick gekommen war; er nahm all seinen Mut zusammen und hielt den Atem an. Hätte er zugleich auch nur das stürmische Pulsieren seiner Adern anhalten können!
Man machte vor der Tür halt; es war ein doppelter Schritt. Dantès erriet, daß es die beiden Totengräber seien, die ihn holen wollten.
Diese Vermutung wurde zur Gewißheit, als er das Geräusch hörte, das sie beim Niedersetzen der Bahre machten.
Die Tür öff nete sich, ein verschleiertes Licht drang bis zu Dantès’
Augen; durch die Leinwand hindurch sah er zwei Schatten sich seinem Bett nähern. Ein dritter blieb, eine Laterne in der Hand haltend, an der Tür stehen. Die
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