Der Graf von Monte Christo 1
Wohlergehen, das Sie verdienen; mein Sohn, ich segne Sie!« – Der junge Mann fi el auf die Knie und verbarg sein Gesicht in dem Bett des Greises.
»Aber vor allem hören Sie wohl, was ich Ihnen in diesem letzten Augenblick sage: Der Schatz der Spadas existiert! Gott gestattet mir, in die Ferne zu schauen. Ich sehe ihn im Hintergrund der zweiten Höhle; meine Augen dringen in die Tiefe der Erde und sind geblendet von so viel Reichtümern. Gelingt es Ihnen zu fl iehen, so erinnern Sie sich, daß der arme Abbé, den jeder für verrückt hielt, nicht irrsinnig war; eilen Sie nach Monte Christo, benutzen Sie unser Vermögen für sich. Sie haben genug gelitten …«
Ein heftiger Anfall unterbrach den Greis; Dantès blickte auf und sah, wie die Augen rot wurden; es schien, als ob eine Blutwelle von der Brust nach der Stirn stieg.
»Leben Sie wohl! Leben Sie wohl!« murmelte der Greis, indem er krampfhaft die Hand des jungen Mannes drückte. »Leben Sie wohl! …«
»Oh, noch nicht, noch nicht«, rief Edmund Dantès; »verlassen Sie mich noch nicht. O Gott, rette ihn! … Hilfe! … Hilfe! …«
»Still, still!« murmelte der Sterbende. »Damit man uns nicht trennt, wenn Sie mich retten!«
»Sie haben recht. Ja, ja, seien Sie ruhig, ich rette Sie. Sie scheinen weniger zu leiden als das letztemal.«
»Oh, täuschen Sie sich nicht; ich leide weniger, weil mir nur noch wenige Kräfte zum Leiden geblieben sind. Oh, das ist der Tod … er kommt … es ist zu Ende … mein Gesicht erlischt …
mein Bewußtsein schwindet … Ihre Hand, Dantès! … Leben Sie wohl! … Leben Sie wohl!«
Mit einem letzten Zusammenraff en all seiner Kräfte richtete er sich nochmals auf und sagte:
»Monte Christo! Vergessen Sie nicht Monte Christo!«
Dann fi el er auf das Bett zurück.
Der Anfall war schrecklich; die Glieder verrenkten sich, die Augen traten aus den Höhlen, blutiger Schaum bedeckte die Lippen, und schließlich blieb ein bewegungsloser Körper auf dem Schmerzensla-ger zurück.
Dantès nahm die Lampe und stellte sie am Kopfende des Betts auf einen vorspringenden Stein, von wo ihr zitterndes Licht dieses entstellte Gesicht und diesen leblosen Körper mit seltsamem und phantastischem Scheine beleuchtete.
Er beobachtete das Gesicht des Abbés und wartete ruhig ab.
Als er den Augenblick gekommen glaubte, nahm er das Messer, trennte die aufeinandergepreßten Zähne, die diesmal nicht so großen Widerstand leisteten wie das vorige Mal, und fl ößte dem Abbé zehn Tropfen ein; das Fläschchen enthielt noch ungefähr das Doppelte dessen, was er verbraucht hatte.
Er wartete zehn Minuten, eine Viertelstunde, ein halbe Stunde; nichts rührte sich. Zitternd, mit gesträubtem Haar, kalten Schweiß auf der Stirn, zählte er die Sekunden an den Schlägen seines Herzens.
Dann hielt er die Zeit für gekommen, das letzte Mittel zu versuchen; er hielt das Fläschchen an die violetten Lippen Farias und goß den ganzen Rest hinein, ohne daß er die off en gebliebenen Kiefer hätte zu trennen brauchen.
Die Arznei brachte eine elektrisierende Wirkung hervor; ein heftiges Zittern schüttelte die Glieder des Greises, seine Augen öff neten sich erschreckend weit, er stieß einen Seufzer aus, der wie ein Aufschrei war, dann sank der Körper allmählich wieder in seine Unbeweglichkeit zurück.
Die Augen blieben geöff net.
Eine halbe Stunde, eine Stunde, anderthalb Stunden verfl ossen.
Während dieser anderthalb Stunden voll Todesangst fühlte Edmund, der sich über seinen Freund beugte und die Hand auf sein Herz legte, den Körper nach und nach erkalten und den Herzschlag immer leiser werden.
Schließlich wich das letzte Leben aus ihm; das Zittern des Herzens hörte auf, das Gesicht wurde wachsfarben, die Augen blieben off en, der Blick erlosch.
Es war sechs Uhr morgens, ein blasser Tagesschein fi el in den Kerker und ließ das erlöschende Licht der Lampe erbleichen. Sonderbare Lichter fuhren über das Gesicht und gaben ihm hin und wieder einen Anschein von Leben. Solange der Kampf zwischen Tag und Nacht gedauert, hatte Dantès noch gezweifelt; sobald aber der Tag gesiegt hatte, erkannte Dantès, daß er mit einer Leiche allein war.
Da packte ihn eine unwiderstehliche Angst, er wagte es nicht mehr, die aus dem Bett heraushängende Hand zu berühren, wagte es nicht mehr, die starren weißen Augen anzusehen, die er mehrmals zu schließen versuchte, die sich aber immer wieder öff neten.
Er löschte die Lampe aus, versteckte sie
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