Der Graf von Monte Christo 2
nicht weit entfernt von der kleinen Insel, die unserem Roman den Namen gab. Die Bourbonen, die unter Ludwig XVIII. nach Frankreich zu-rückgekehrt waren, machten sich aber schnell verhaßt, indem sie eine Politik der Restauration betrieben, das heißt, sie wollten die Zustände wieder einführen, die vor der Französischen Revolution bestanden. So kam es, daß konspirierende Gruppen in Paris und anderen Städten Napoleon auff orderten, zurückzukehren. Wie im Roman beschrieben, eroberte er seine alte Machtposition noch einmal, wurde aber nach etwas über drei Monaten in der Schlacht von Waterloo entscheidend geschlagen. In diesen bewegten Tagen des Jahres
ging es nicht schlechthin um die Ersetzung eines Herrschers durch einen anderen, sondern um die Frage, ob Errungenschaften der Revolution von – Abschaff ung der Privilegien von Aristokratie und Klerus – bewahrt werden oder ob der Adel und die Geistlichkeit wieder die alten Machtpositionen einnehmen sollten. Verfolgungen, Terror und Unterdrückungen setzten ein, das ganze Land geriet in Aufruhr, und jeder konnte bei der geringsten Verdächtigung verhaftet werden. Viele Unschuldige wurden in das Geschehen hineingeris-sen. Edmund Dantès ist einer der unschuldig schuldig Gewordenen.
Er befördert, ohne es zu wissen, einen an die Bonapartisten gerichteten Brief, wird verraten und gerät an einen typischen Anhänger der Bourbonen, der in eine Adelsfamilie einheiraten will und seine Karriere nur dem Regime Ludwigs XVIII. verdankt: Villefort. In dieser Gestalt zeigt Dumas deutlich, daß auch die führenden Vertreter der Gesellschaft unter dem neuen König von Anfang an eine kor-rupte Politik betrieben. Er schildert die dem Adel verschriebene Klassenjustiz, aus deren Fängen Dantès sich erst vierzehn Jahre spä-
ter befreien kann; er kehrt also zu einer Zeit in die Freiheit zurück, da Geld ihm alle Türen und Tore öff nete und auf diese Weise den Weg für seine Vergeltung und Rache ebnete.
Dumas stellt, wie wir sehen, auch in diesem Roman seine Helden in eine historisch genau umrissene Situation. Wesentlich ist für ihn aber nicht die getreue Darstellung der Wirklichkeit, sondern das Abenteuerliche und Unterhaltende, das Außergewöhnliche, das er erreicht, indem er diese Wirklichkeit so interpretiert, wie er sie im Roman braucht. Entscheidend sind das eigene Vermögen oder Unvermögen, dem Schicksal zu begegnen. Mut, Tatkraft, persönliche Gewandtheit und viel, viel Glück sind die Faktoren, die Edmund Dantès über andere Menschen hinausheben und ungeachtet der Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zu einer Art unfehlbarem Übermenschen machen.
Wenn er trotzdem als Graf von Monte Christo unter uns weiter-leben und uns begeistern wird, wie er vier Generationen vor uns begeistert hat, so hat das andere Gründe. Seine Tapferkeit, sein Gerechtigkeitssinn und die Romantik eines ungewöhnlichen Lebens werden ihm weiterhin die Sympathien aller Leser bewahren, und die Erinnerung an die kleine Mittelmeerinsel zwei Kilometer vor Marseille, auf der sich auch heute noch das Schloß If erhebt, wird auch den Älteren unter uns, die das Buch jetzt wieder in die Hand nehmen, viele schöne Stunden aufregender Lektüre bereiten.
Hans-Jürgen Hartmann
Alle Leser, die sich eingehender über das Leben Alexandre Dumas’ in-formieren wollen, verweisen wir auf das Nachwort, das in dem ebenfalls in unserem Verlag erschienenen Roman »Die drei Musketiere« enthalten ist.
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