Der Graf von Monte Christo
Winkel sitzend, seine Zeitung las.
Der Engländer fand ohne Mühe die Akten, die sich auf den Abbé Faria bezogen; doch es scheint, die Geschichte, die ihm Herr von Boville erzählt, hatte ihn lebhaft interessiert, denn nachdem er die ersten Stücke eingesehen, blätterte er weiter, bis er zu Edmond Dantes' Akten gekommen war. Hier fand er schön beisammen: Denunziation, Verhör, Bittschrift des Herrn Morel, Randglosse des Herrn von Villefort. Er faltete unbemerkt die Denunziation zusammen, steckte sie in seine Tasche, las das Verhör und sah, daß der Name Noirtier unterdrückt war, durchlief dann auch noch das Gesuch vom 10. Februar 18l5, worin Herr Morel, nach Villeforts Rat, in guter Absicht, weil Napoleon noch regierte, die Dienste übertrieb, die Dantes der kaiserlichen Sache geleistet hatte. Nun begriff er alles. Das von Villefort aufbewahrte Gesuch war nach Napoleons zweiter Entthronung eine furchtbare Waffe in den Händen des Staatsanwalts geworden. Er wunderte sich daher nicht mehr über folgende Note, die er neben seinem Namen fand:
Edmond Dantes
Wütender Bonapartist, hat tätigen Anteil an der Rückkehr von der Insel Elba genommen.
Im geheimsten Gewahrsam und unter der strengsten Aussicht zu halten
Unter diesen Zeilen stand von einer andern Handschrift:
In Betracht obiger Note nichts zu machen.
Die Handschrift der Randbemerkung mit der der Erklärung vergleichend, die der Staatsanwalt unter Morels Gesuch gesetzt hatte, bekam der Engländer die Gewißheit, daß Randglosse und Erklärung von einer Hand, nämlich Villeforts, herrührten.
Was die letzte Note betrifft, so sagte er sich, daß sie von irgend einem Inspektor herrührte, der vorübergehendes Interesse an Dantes' Lage genommen, durch die erwähnte Bemerkung sich aber in die Unmöglichkeit versetzt gesehen hatte, seiner Teilnahme Folge zu geben.
Aus Diskretion hatte sich der Inspektor entfernt und las im Staatsanzeiger. Er sah also nicht, wie der Engländer die von Danglars in der Sommerlaube der Reserve geschriebene Denunziation zusammenlegte und einsteckte. Hätte er es aber auch gesehen, so würde er sicher zu wenig Gewicht auf dieses Papier und zu viel auf seine 200 000 Franken gelegt haben, um einzugreifen.
Ich danke, sagte der Engländer, indem er das Register geräuschvoll schloß. Ich weiß, was ich wissen wollte, und nun ist es an mir, mein Versprechen zu halten; erklären Sie schriftlich, daß Sie mir Ihre Schuldforderung für die Summe von 200 000 Franken abtreten, und ich bezahle Ihnen die Summe.
Und während Herr von Boville eiligst die Erklärung aufsetzte, zählte der Engländer auf einem Tischchen die Banknoten auf.
Das Haus Morel.
Wer ein paar Jahre früher Marseille verlassen hätte und zu der Zeit, in der Dantes seine Vaterstadt wiedersah, zurückgekehrt wäre, hätte die Verhältnisse des Hauses Morel sehr verändert gefunden.
Statt des Behagens und Glückes, das von einem im Gedeihen begriffenen Hause ausgeht, wäre ihm auf den ersten Blick eine gewisse Trauer und Stille aufgefallen. In den Büros, die früher von zahlreichen Kommis wimmelten, waren nur noch zwei zurückgeblieben. Der eine war ein junger Mann, namens Emanuel Raymond, der die Tochter des Herrn Morel liebte, der andere der alte einäugige Cocles, der den Posten eines Kassendieners bekleidete. In der Stellung des letzteren war eine sonderbare Veränderung eingetreten; er war zugleich zum Range eines Kassierers avanciert und zum Range eines Dienstboten heruntergerückt. Es war aber immer der nämliche Cocles, geduldig, treu und ein Rechner, wie man nicht leicht einen zweiten wiederfinden konnte.
Inmitten der allgemeinen Schwermut, die über dem Hause Morel lagerte, war Cocles übrigens der einzige, der unempfindlich geblieben zu sein schien. Diese Gelassenheit entsprang nicht einem Gefühlsmangel, sondern im Gegenteil einer unerschütterlichen Überzeugung. Als die andern Kommis und Angestellten des Hauses die Büros verlassen hatten, hatte Cocles sie gehen sehen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Er hatte seinen letzten Monatsabschluß fertig gemacht und darin eine Differenz von siebzig Centimes zu Gunsten der Kasse entdeckt, die er am gleichen Tage seinem Prinzipal überbrachte. Der Prinzipal nahm sie mit wehmütigem Lächeln, ließ sie in eine beinahe leere Schublade fallen und sagte zum Kassierer: Gut, Cocles, Sie sind die Perle aller Kassierer.
Cocles entfernte sich äußerst zufrieden; denn ein Lob von
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