Der Graf von Monte Christo
hinzu.
Gnädige Frau, sagte Villefort, Sie müssen die aufgeregten Gedanken, die fast an Wahnsinn grenzen, von sich entfernen. Liegen die Toten einmal in ihren Gräbern, so schlafen sie darin, um sich nie mehr zu erheben.
Oh ja, ja, gute Mutter! beruhige dich, rief Valentine.
Und ich, mein Herr, sage Ihnen, daß es nicht so ist, wie Sie glauben. Diese Nacht lag ich in furchtbarem Schlafe; denn ich sah mich gleichsam schlummern, als ob meine Seele bereits über meinem Leibe schwebte. Meine Augen, die ich gewaltsam offen halten wollte, schlossen sich unwillkürlich, und dennoch, ich weiß wohl, daß Ihnen dies unmöglich vorkommen wird, Ihnen, mein Herr, ... ich sah mit geschlossenen Augen, auf derselben Stelle, wo Sie sind, aus jener Ecke kommend, in der eine Tür ist, die nach dem Ankleidezimmer von Frau von Villefort geht, geräuschlos eine weiße Gestalt hervortreten.
Valentine stieß einen Schrei aus.
Das Fieber hat Sie aufgeregt, sagte Villefort.
Zweifeln Sie, wenn Sie wollen, doch ich bin dessen, was ich sage, gewiß. Ich sah eine weiße Gestalt; und als sollte ich durch das Zeugnis eines andern Sinnes noch bestärkt werden, hörte ich das Glas rücken, das hier auf dem Tische steht.
Oh! gute Mutter, das war ein Traum.
Es war so wenig ein Traum, daß ich die Hand nach der Glocke ausstreckte und daß der Schatten bei dieser Gebärde verschwand. Die Kammerfrau trat mit einem Lichte ein.
Doch sie hat niemand gesehen?
Die Geister zeigen sich nur denen, die sie sehen sollen, es war die Seele meines Mannes.
Oh, sagte Villefort, unwillkürlich in der innersten Tiefe erschüttert, gestatten Sie diesen finstern Gedanken keinen Einfluß; Sie werden mit uns leben, Sie werden lange Zeit glücklich, geliebt, geehrt leben, und wir werden machen, daß Sie vergessen ...
Nie, nie, nie! rief die Marquise. Wann kommt Herr d'Epinay zurück?
Wir erwarten ihn jeden Augenblick.
Es ist gut; sobald er angekommen ist, benachrichtigen Sie mich. Eilen wir, eilen wir. Dann möchte ich auch gern einen Notar sehen, um mich zu vergewissern, daß unsere ganze Habe Valentine zukommt.
Oh! meine Mutter, murmelte Valentine, ihre Lippen auf die glühende Stirn der alten Frau drückend; Sie wollen mich also töten? Mein Gott! Sie haben Fieber, nicht einen Notar muß man rufen, sondern einen Arzt!
Einen Arzt! sagte sie, die Achseln zuckend, ich leide nicht, ich habe nur Durst.
Was trinken Sie denn, gute Mama?
Du weißt, wie immer meine Orangeade. Mein Glas steht dort, dort auf dem Tische, gib es mir, Valentine.
Valentine goß die Orangeade aus der Flasche in ein Glas, nahm dieses mit unwillkürlichem Schrecken und gab es ihrer Großmutter, denn es war dasselbe Glas, das, wie sie behauptete, der Schatten berührt hatte.
Die Marquise leerte das Glas auf einen Zug. Dann drehte sie sich auf ihrem Kopfkissen um und wiederholte: Den Notar! den Notar!
Herr von Villefort ging weg, Valentine setzte sich an das Bett ihrer Großmutter. Die Arme schien selbst sehr des Arztes zu bedürfen, den sie der alten Frau empfohlen hatte. Eine flammenartige Röte brannte auf ihren Wangen, ihr Atem war kurz und keuchend, und ihr Puls schlug, als ob sie Fieber hätte. Der Grund war, daß sie an Maximilians Verzweiflung dachte, wenn er erfahren würde, daß Frau von Saint-Meran, statt eine Verbündete zu sein, ohne ihn zu kennen, handelte, als ob sie seine Feindin wäre.
Mehr als einmal dachte Valentine daran, ihrer Großmutter alles zu sagen, und sie würde keinen Augenblick gezögert haben, hätte Maximilian Morel Albert von Morcerf oder Raoul von Chateau-Renaud geheißen. Aber Morel war von plebejischer Abkunft, und Valentine kannte die Verachtung, welche die stolze Marquise von Saint-Meran gegen alles hegte, was nicht von Adel war. Ihr Geheimnis war also stets in dem Augenblick, wo es zu Tage treten wollte, durch die traurige Gewißheit zurückgedrängt worden, daß sie es unnötig preisgeben würde, und daß alles verloren wäre, wenn das Geheimnis einmal zur Kenntnis ihres Vaters oder ihrer Stiefmutter gelangt sei.
So vergingen etwa zwei Stunden, während deren Frau von Saint-Meran in heißem, unruhigem Schlafe lag. Man meldete den Notar.
Obgleich diese Meldung sehr leise gemacht wurde, erhob sich doch Frau von Saint-Meran aus ihrem Kopfkissen. Der Notar war an der Tür, er trat ein.
Geh, Valentine, sagte Frau von Saint-Meran, und laß mich mit diesem Herrn allein.
Aber, meine Mutter ...
Geh, geh.
Das Mädchen küßte ihre Großmutter auf die
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