Der Graf von Monte Christo
Stirn und entfernte sich, ihr Taschentuch vor den Augen. An der Tür fand Valentine den Kammerdiener, der ihr sagte, der Arzt warte im Salon.
Valentine ging rasch hinab. Der Arzt war ein Freund der Familie und zugleich einer der geschicktesten Männer der Zeit; er liebte Valentine, die er zur Welt hatte kommen sehen, ungemein. Er besaß eine Tochter, ungefähr von dem Alter Valentines; doch diese Tochter war von einer brustkranken Mutter geboren, und der Arzt lebte in beständiger Angst um sein Kind.
Ah, sagte Valentine, mein lieber Herr d'Avrigny, wir erwarteten Sie mit Ungeduld. Doch vor allem, wie befinden sich Madeleine und Antoinette?
Madeleine war Herrn d'Avrignys Tochter und Antoinette seine Nichte.
Herr d'Avrigny antwortete traurig lächelnd: Antoinette sehr gut, Madeleine ziemlich gut. Sie haben mich holen lassen, liebes Kind. Es ist weder Ihr Vater, noch Frau von Villefort krank? Was Sie selbst betrifft, so sehe ich zwar, daß Sie sich von Ihren Nerven nicht freimachen können, glaube aber doch, daß Sie meiner sonst nicht bedürfen, als meines Rates, Ihre Einbildungskraft nicht so auf weitem Felde umherschweifen zu lassen.
Valentine errötete; Herr d'Avrigny trieb die Wissenschaft der Divination bis zum Wunderbaren, denn er war einer von den Ärzten, welche das Körperliche stets auf geistigem Wege behandeln.
Nein, sagte sie, man hat Sie meiner armen Großmutter wegen gerufen. Nicht wahr, Sie wissen, welch ein Unglück uns widerfahren ist?
Ich weiß es nicht.
Ach! sagte Valentine, ein Schluchzen unterdrückend, mein Großvater ist gestorben.
So plötzlich?
An einem Schlagfluß.
An einem Schlagfluß? wiederholte der Arzt.
Ja. Und meine arme Großmutter hat nun der Gedanke erfaßt, ihr Gatte, den sie nie verlassen, rufe sie, und sie werde bald mit ihm vereinigt sein. Oh! Herr d'Avrigny, gehen Sie zu meiner armen Großmutter, sie ist in ihrem Zimmer, mit dem Notar.
Gut, ich eile, und Herr Noirtier?
Immer derselbe, vollkommene Klarheit und Schärfe des Geistes, aber auch dieselbe Unbeweglichkeit, dieselbe Stummheit.
Und dieselbe Liebe für Sie, nicht wahr, mein gutes Kind?
Ja, erwiderte Valentine mit einem Seufzer, er liebt mich sehr.
Wer sollte Sie nicht lieben?
Valentine lächelte traurig.
Und woran leidet Ihre Großmutter?
An einer sonderbaren Nervenaufregung; ihr Schlaf ist unruhig und seltsam. Sie behauptete heute morgen, während ihres Schlummers schwebe ihre Seele über dem Körper, und das ist doch Delirium; sie versichert mir, sie habe einen Geist in ihr Zimmer treten sehen und das Geräusch gehört, das der Geist, als er ihr Glas berührte, gemacht habe.
Das ist sonderbar, äußerte der Doktor, ich wußte nicht, daß Frau von Saint-Meran solchen Sinnestäuschungen unterworfen ist.
Es ist das erste Mal, daß ich sie so gesehen habe, entgegnete Valentine, und es wurde mir sehr angst um sie, denn ich hielt sie für wahnwitzig, und mein Vater, – Sie kennen meinen Vater gewiß als einen ernsten Mann, – nun selbst auf meinen Vater schien die Sache einen starken Eindruck hervorzubringen.
Wir werden sehen, versetzte Herr d'Avrigny; was Sie mir da sagen, kommt mir ganz eigentümlich vor.
Der Notar entfernte sich, und man benachrichtigte Valentine, ihre Großmutter sei allein.
Gehen Sie mit hinauf? fragte der Doktor.
Oh! ich wage es nicht, sie hat mir verboten, Sie holen zu lassen! Dann bin ich, wie Sie sagen, selbst aufgeregt, fieberhaft, mißgestimmt; ich will einen Gang in den Garten machen, um mich zu erholen.
Der Doktor drückte Valentine die Hand, und während er zu ihrer Großmutter hinaufging, stieg sie die Freitreppe hinab.
Wir brauchen nicht zu sagen, welcher Teil des Gartens Valentines Lieblingsspaziergang war. Nachdem sie zwei oder dreimal an dem Blumenbeete hin und her gewandert, welches das Haus umgab, nachdem sie eine Rose gepflückt, um sie in ihren Gürtel oder in ihre Haare zu stecken, wandelte sie gewöhnlich unter der düsteren Allee fort, die zu der Bank führte, und von der Bank begab sie sich zu dem Gitter.
Diesmal machte Valentine, ihrer Gewohnheit gemäß, mehrere Gänge unter den Blumen, doch ohne eine zu pflücken, ihr Herz war zu traurig; dann wandte sie sich der Allee zu. Während sie weiter schritt, kam es ihr vor, als hörte sie ihren Namen rufen. Sie blieb stehen.
Da gelangte der Ton deutlicher au ihr Ohr, und sie erkannte Maximilians Stimme.
Das Versprechen.
Es war wirklich Morel, der seit dem Tage vorher entsetzlich litt; mit dem
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