DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
hatte und was er ihr hatte mitteilen wollen.
»Jos«, sagte sie. Ihre Stimme klang hell und lebhaft und freudig. Aber hinter der Freude lag etwas anderes: eine seltsame Wehmut, die dem näher lag, was er verstehen konnte. Keinerlei Grausamkeit schwang heute in ihrem Ton mit – auch keinerlei Güte. Sie streckte die Hände nach ihm aus.
Sie beherrschte ihr Feuer, hielt es eingefasst; er konnte sie gefahrlos berühren. Also ergriff er ihre Hände und blickte zu ihrem liebreizenden, nichtmenschlichen Gesicht hinab. »Kes.«
»Du hast mich gerufen … Ich bin gekommen … Ich wollte dich noch einmal sehen.« Verwirrt zog sie die zarten weißen Brauen leicht zusammen. »Ich hörte deine Stimme und empfand den Wunsch zu kommen«, wiederholte sie das soeben Gesagte in anderen Worten, wobei sie langsam sprach, als fände sie das Geschehene merkwürdig.
»Kes«, sagte Jos erneut. Und fragte dann, als Furcht in ihm heraufdämmerte: »Noch einmal?« Er hatte die Hände zu fest um ihre geschlossen. Sie wich nicht aus seinem Griff zurück, aber er spürte den eigenen Kraftaufwand und zuckte an ihrer Stelle zusammen; danach öffnete er wieder die Hände.
Sie wich nicht zurück. Sie schien nicht einmal zu bemerken, dass er sie freigegeben hatte. »Ich habe den Wall durchbrochen«, stellte sie schlicht fest. »Heute Mittag, als die Sonne mit aller Kraft schien. Nur ein geringer Teil wurde zerstört, aber dieser Teil bildete den Anker, der den Wall eng mit den wilden Bergen verknüpfte. Der Bergpass steht dem Feuer jetzt offen. Wenn der Morgen dämmert, werden wir den feurigen Wind heraufbeschwören. Morgen wird ein Tag für Blut und Feuer sein.«
Sie sagte das nicht mit Freude, wie Jos es vielleicht erwartet hätte. Vielmehr klang in ihrer Stimme eine seltsame Wehmut durch. Sie legte den Kopf schief, während sie ihn weiter ansah – eine schnelle, fast vogelhafte Bewegung. »Ich könnte dich fortbringen«, bot sie an. »Nicht zum Pass. An einen Ort, wohin das Volk von Feuer und Luft nicht vordringen wird.«
»Letztlich wird es überallhin vordringen. Oder würde es. Kes …« Jos hätte am liebsten ihr Gesicht berührt, mit dem Daumen die Linie des Kiefers nachgezogen. Er gestattete sich jedoch nicht, dazu die Hand auszustrecken, sondern sprach eindringlich: »Kes, ich bin ja so froh, dass du gekommen bist. Du weißt nicht, was geschehen wird. Ein Tag des Feuers und Blutes, sagst du; aber es wird ein Tag sein, der alles Feuer erstickt. Bertaud … Fürst Bertaud, den du kennst … Ist dir klar, dass er eine Verbundenheit zu Greifen hat?«
Lange Zeit schien es, als würde Kes nicht begreifen, was er gesagt hatte. Dann glaubte sie ihm nicht. »Eine Kreatur der Erde?«, rief sie. »Eine Verbundenheit zum Volk von Feuer und Luft? Du erzählst Märchen und redest von Sonnenstrahlen; deine Worte sind wie die Asche, die im Wind zerstäubt! Das kann nicht stimmen. Es stimmt einfach nicht. Wie könnte es das?« Sie wich einen Schritt weit von ihm zurück. Einen weiteren. Rief dann noch schärfer und in einem Ton, der menschlicher war, als er seit Jahren von ihr vernommen hatte: »Wie kannst du nur solche Lügen erzählen?«
»Du hast die Gabe selbst in ihm geweckt, als du ihn mithilfe des Feuers geheilt hast«, erklärte ihr Jos eindringlich. »Niemand außer Sipiike Kairaithin weiß davon. Denke an Kairaithin – und sage mir dann noch einmal, das alles wären nur Sonnenstrahlen und Asche! Denk an all das, was Kairaithin in den zurückliegenden Jahren getan hat und was zu tun er sich geweigert hat, und sage dann noch einmal, es wäre eine Lüge!«
Das Feuer in Kes wurde heller und noch heller, loderte schließlich so grell, dass Jos einen Schritt zurückweichen musste. Kes löste sich jedoch nicht im Wind auf. Sie war zu einer brennenden Gestalt aus weißem Gold und Porzellan geworden, aber sie verschwand nicht.
»Kes!«, rief er und überwand sich, erneut einen Schritt weitnäher zu kommen. »Falls die Greifen morgen auf ihrem Wind aus Feuer aus diesem Pass hervorkommen, werden sie alle davon erfahren. Ist dir das klar? Ist dir klar, was ihnen das antun wird?«
»Ja«, antwortete Kes.
»Du musst sie aufhalten. Tastairiane Apailika ist es, der diesen Wind entfacht, nicht wahr? Du kannst ihn noch heute Abend aufsuchen … Sag ihm …«
»Ich kann es ihm nicht sagen!«, schrie Kes.
»Sag ihm, du hättest es dir anders überlegt – du wolltest seinen Angriff auf Farabiand nicht mehr unterstützen. Du kannst ihm
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