DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde
Farabiands. Ehe ihr der Arobarn das erklärte, hatte Maianthe gar nicht bemerkt, dass er mit Absicht all diese Flaggen an einer Position flattern ließ, wo sie leicht zu sehen waren.
Und zunächst schien er recht zu behalten: Sie trafen nicht auf entschlossenen Widerstand, sondern erblickten nur hin und wieder Späher oder Agenten Linularinums; beim Vorrücken stießen sie dann oft auf erkennbare Spuren größerer Verbände, die dort gelagert, sich jedoch zurückgezogen hatten. Ein formelles Bündnis im Anmarsch und eine durch und durch feindselig gesinnte Deltabevölkerung in der Umgebung: Dem wollten sich die Linulariner Offiziere nicht stellen. Sie wichen ein ums andere Mal zurück. Somit kam es bislang nicht zu Kämpfen.
»Das ändert sich vielleicht, wenn wir Tiefenau erreichen«, warnte der Arobarn Maianthe.
»Das wird es, wenn sie ihr Buch noch nicht gefunden haben«, pflichtete ihm Gerent Ensiken bei. Er nickte Maianthe zu, wandte sich aber im Grunde an den Arobarn. »Vielleicht möchten sie nicht kämpfen, aber ich denke, sie tun es eher, als dass sie die Stadt räumen, wo sie es versteckt wissen.«
»Sie haben es sicher nicht gefunden«, hatte Maianthe zuversichtlich gesagt, aber der casmantische Magier zuckte daraufhin nur die Achseln.
Als sie sich schließlich Tiefenau näherten, schwand Maianthes Sicherheit allmählich. Sie wischte sich feuchte Haarsträhnen aus dem Gesicht und blickte forschend voraus, um einen ersten Eindruck von der Stadt zu erhaschen. Die Sonne kämpfte sich einen Weg durch hochaufragende Wolken hindurch frei, und die Wälder entlang der Straße wirkten schwer und dicht von grünen Schatten. Verziert wurden die Schatten durch das Aufleuchten von Gelb und Karmesinrot, wenn eine blühende Rebe sich an einer mächtigen Eiche emporschlängelte oder ein Vogel vorbeihuschte. Moskitos summten im dichten Schatten, und Fliegenschnäpper mit saphirblauen Flügeln führten unter einem Himmel mit vielschichtigen Wolkengebilden ihre Flugkunststücke aus. Die Hufe der Pferde klopften dumpf auf die dichte, nasse Erde der Straße, und überall hörte man Wasser rauschen – sowohl in den Gräben beiderseits der Straße als auch an den Böschungen, wo die Straße durch Schlammlöcher führte. Es tropfte von den Zweigen über den Reitern und rieselte durch die nassen Blätter, die unter den Bäumen den Erdboden bedeckten. Die Zügel fühlten sich in Maianthes Fingern steif und kalt an.
»Es scheint immer zu regnen, wenn ich nach Tiefenau zurückkehre, egal wie lange ich nicht dagewesen bin«, sagte sie laut.
»Wären wir in den Bergen, dann würde es schneien«, warf Tan mit dem Hauch eines Lächelns ein. Er ritt an Maianthes Seite, seine gewohnte Position in all diesen langen, nassen Tagen. Er redete inzwischen nur noch selten; seine Aufmerksamkeit schien nach innen gewandt. Vielleicht hatte er jedoch Maianthes Besorgnis bemerkt und redete jetzt in lockerem Tonfall, um sie von ihrer Stimmung abzulenken.
Maianthe war nicht bereit, sich aufmuntern zu lassen. »Das wäre zumindest hübsch«, meinte sie. Im Delta schneite es selten; gewöhnlich gab es nur tagelang kalten grauen Nieselregen. Maianthe liebte Schnee. Sie dachte wehmütig an das hübsche winterliche Tihannad. Hoch im Schatten der Berge lag womöglich selbst so spät im Frühling noch Schnee. Bertaud war jetzt dort. Kaum hatten sich ihre Gedanken ihm zugewandt, stellte sie fest, dass sie ihn schrecklich vermisste. War er seinem Greifenfreund wieder begegnet? Hatten sie herausgefunden, warum der casmantische Wall nachgab und wie sie verhindern konnten, dass er völlig durchbrach? Inzwischen musste er von den Schwierigkeiten im Delta erfahren haben …
Maianthe kam zum ersten Mal der Gedanke, dass ihr Vetter möglicherweise in diesem Augenblick unterwegs ins Delta war; vielleicht war er gar vor ihnen eingetroffen und hielt sich jetzt schon hier auf. Sie war davon ausgegangen, dass er in der Nähe des Königs bleiben würde, dass Iaor Safiad die Straße entlang des Sierhanan vermeiden würde – dass sie Fürst Beguchren in Minasfurt träfen und dieser sie dort aufhielte, ganz wie es der Arobarn geplant hatte. Aber was, wenn … Und was täte er wohl, wenn er sah, wen Maianthe mit nach Hause gebracht hatte? Falls er auf dieser gefährlichen Straße Tiefenau überhaupt erreicht hatte … Falls Linulariner Soldaten ihn nicht aufgehalten hatten …
»Schade, dass dein fürstlicher Vetter oben in Tihannad festsitzt und nicht hier auf
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