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DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

Titel: DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Neumeier
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nur wenige Augenblicke aufhalten. Maia hatte vielleicht irgendwo eine Inspiration erhalten, aber Tan fiel nichts Nützliches ein, und die Rufe ertönten jetzt deutlich näher …
    »Tan!«, rief Maianthe eindringlich aus dem Wohnzimmer. Entweder hatte sie inzwischen vergessen, dass es nötig war, sich leise zu verhalten. Oder sie war zu dem berechtigten Schluss gelangt, dass Vorsicht jetzt auch nichts mehr nützte. »Tan! Oh –gut, da bist du ja. Stelle dich in den Mittelpunkt. Nein, mit dem Buch!«
    Sie drückte es ihm in die Hand und schob ihn zum Mittelpunkt der Spirale, die inzwischen fast den ganzen Fußboden bedeckte. Ein Dutzend weitläufige, perfekt gleichmäßige Windungen liefen von den Wänden aus in die Mitte des Zimmers. Die schwarzen Linien glänzten wie von frischer Tinte, aber nicht mal die bestgefertigte Schreibfeder der Welt hätte so viel Tinte enthalten oder einen solch breiten, schweren Strich ziehen können. Im nächsten Augenblick sahen die schwarzen Linien gar nicht mehr nach Tinte aus, sondern nach Schatten – nach tiefen Spalten, die direkt ins Herz der Welt führten. Tan versuchte, mit seinem Blick der Spirale nach innen zu folgen, fand jedoch heraus, dass das Zentrum schwer zu erkennen war, als läge es in sehr weiter Ferne. Die Illusion, dass die Spirale auf dem Weg nach innen auch nach unten führte, war sehr stark, obwohl er, wenn er darüber hinwegblickte und nicht der gewundenen Linie folgte, sehr gut sehen konnte, dass der Boden eben war.
    »Nicht die Linie durchqueren!«, ergänzte Maianthe.
    »Nicht die Linie durchqueren?«, brummte Tan. Er warf einen Blick zur Tür, der jemand gerade einen Hieb versetzt hatte, dass sie noch schwang. »Maia …«
    »Was?« Sie schien von den Ereignissen nichts zu bemerken – nicht einmal, als die Tür unter einem weiteren Schlag in den Angeln schepperte. Maianthe starrte vielmehr auf die weit auseinanderliegenden geschwungenen Linien der Spirale. Ihr Gesicht wirkte konzentriert, nicht ausdruckslos wie zuvor draußen in der Stadt. War dieser Unterschied nun gut oder schlecht?
    Die Tür klapperte erneut, und das Holz zeigte Risse.
    »Tan!«, rief Maianthe, aber es ging ihr nicht um die Tür. Wie nett es von ihr war, so in ihre seltsame Magie vertieft zu sein,dass sie keine Angst leiden musste. Sie deutete auf das Zentrum der Spirale.
    Tan musste sich überwinden, der Tür den Rücken zuzukehren, betrat die Spirale und folgte der gewundenen Bahn zum Zentrum. Er achtete sorgsam darauf, die glänzende schwarze Linie nicht mit den Füßen zu berühren, obwohl er sich fragte, was wohl geschähe, wenn er es tat: Verschmierte dann die Tinte, oder stellte er schlicht fest, dass er mit dem Fuß in einen offenen Spalt getreten war, der zum Mittelpunkt der Erde führte?
    Maianthe rief: »Oh, wo habe ich nur den Abschluss gelassen?« Sie klang jedoch eher frustriert als verängstigt. Dann sagte sie erneut »Oh«, und es klang viel fröhlicher. Wie nett, dass hier wenigstens einer froh sein konnte.
    Ungeachtet der Warnung, die sie Tan gegeben hatte, trat sie unvermittelt direkt an der Linie entlang vor und setzte einen Fuß vorsichtig vor den anderen. Weder verschmierte die Tinte, noch stürzte Maianthe. Trotz der schmalen Bahn und trotz aller Vorsicht bewegte sie sich rasch, sodass sie das Zentrum lange vor Tan zu erreichen drohte. Er wusste nicht, ob das von Bedeutung war, aber er ertappte sich dabei, wie er sich beeilte, um sie einzuholen, sodass sie schließlich Seite an Seite gingen: Maianthe an der Außenseite der Linie und er an der Innenseite, und sie hielten sich dabei an die Zwischenräume der Spiralwindungen.
    Das Krachen an der Tür schien inzwischen seltsam in der Luft festzuhängen. Die Geräusche schwangen in der Luft, als kämen sie aus weiter Ferne … Schwarze Funken regneten von Maianthes Füßen. Sie schien auf einer Schicht aus durchscheinendem Glas zu wandeln, das sich über tiefe Spalten breitete … Für Tan schien es, als hätte Maianthe diese Spalten nicht erzeugt, sondern sie irgendwie eingesammelt – sie aus dem Stoff der Welt gezogen und in diesem ordentlichen Muster arrangiert. Aber er hätte nicht erklären können, worauf er mit dieser Idee hinauswollte oderwarum er es so auffasste. Er dachte außerdem, dass die Spalten nach unten gingen, in die Tiefe und nach innen führten, obwohl er bei genauerem Hinsehen feststellte, dass Maianthe und er nach wie vor in dem Zimmer waren und die Welt außerhalb der Spirale

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