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DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde

Titel: DER GREIFENMAGIER: Gesetz der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Neumeier
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Zeitgefühl schien sich auf ein nachdrückliches, drängendes Jetzt zugespitzt zu haben.
    Sie verlor Gerent Ensiken aus den Augen und bemerkte nur gelegentlich, dass er sie am Handgelenk packte, um sie aufzuhalten. Einmal, als dies geschah, wich sie seitwärts aus und bewegte sich in einem sauberen Kreis, um seinem Griff zu entrinnen und weiterreiten zu können. Nur stellte sie dann fest, dass Tan nicht mehr bei ihr war, sodass sie kehrtmachen musste, um ihn zu finden.
    Weder bemerkte sie, noch entsann sie sich überhaupt irgendeiner Sorge darüber, ob Männer des Arobarn oder Stadtbewohner sie begleiteten. Tan war die einzige Person, die sie wirklich zur Kenntnis nahm, dies jedoch auch nur, wenn sie ihn nichtmehr bei sich fand. Sie brauchte ihn an ihrer Seite, und wenn sich die Welt um sie und hinter ihr verbog, dann wusste sie, dass er angehalten hatte. Wenn er ihr nicht folgte, sah sie sich ebenfalls gezwungen anzuhalten. Bei solchen Gelegenheiten versuchte sie ihn zu finden, ihn an der Hand zu packen und mitzuziehen. Er widersetzte sich jedoch diesem Ziehen.
    Es wurde geschrien, bemerkte sie vage. Und dann glaubte sie, aufs Neue Schreie zu hören. Sie wusste nicht, ob Zeit vergangen war oder sie noch im selben Augenblick feststeckte, aber das Geschrei schien heftiger geworden und näher gerückt zu sein. Tan weigerte sich, ihr zu folgen. Maianthe blinzelte, verwirrt von dem Reigen aus Bewegung und Farben rings um sie; nichts zeigte sich geneigt, eine verständliche Form anzunehmen. Sie drehte den Kopf, aber nichts von dem, was sie sah, ergab Sinn. Tan hielt jedoch ihre Hand in festem Griff, und das Buch war inzwischen sehr nahe: Es lag genau dort drüben. Sie schloss selbst die Hand um die Tans und zog ihn heftig mit, folgte einem Kreis, der sie um die gewalttätige Aktion herum und durch von strahlenden Farben durchzogene Schatten führte. Und da war das Buch … Sie zog den Teppich zurück und verschob den Kleiderschrank um einen halben Schritt, lehnte sich in die entstandene Lücke, packte fest die Oberkante einer Holztafel der Wand, und diese öffnete sich einen Spalt breit. Maianthe zerrte sie das nötige bisschen weiter auf, griff in den dunklen Hohlraum dahinter, und das Buch fiel ihr sauber in die Hand.
    Und der Augenblick landete krachend in der Zeit. Oder vielleicht dehnte sich die Zeit, um den Augenblick zu umfassen, und Maianthe fand sich in ihrer eigenen Zimmerflucht wieder, dem eigenen Schlafgemach, während das letzte Licht der Nachmittagssonne durch das Fenster fiel. Der Geruch von Rauch und Staub hing schwer in der Luft, und nicht weit entfernt tobte ein Lärm aus Rufen und Geschrei und klirrenden Waffen. Erschrocken schnappte sie nach Luft, und die aufsteigende Furcht hätte ihr beinahe einen echten Schrei entrungen. Aber als sie herumwirbelte, sah sie Tan in der Mitte des Zimmers stehen, einen Finger vor den Lippen und einen Ausdruck gebremster Heiterkeit in den Augen.
    Nachdem Maianthe sie vermittels irgendeiner seltsamen Zauberkraft direkt an den – wer weiß wie vielen – Linulariner Soldaten vorbei und geradewegs in das große Haus und ihr eigenes Zimmer geführt hatte, war Tan für einen langen ausgedehnten Augenblick absolut überzeugt, dass sie in diesem unpassenden Moment wieder zu Sinnen kam und irgendeinen Schrei des Triumphs oder, in Anbetracht ihrer benommenen Miene, des Erstaunens ausstieß. Da er die lauten, befehlsgewohnten Stimmen Linulariner Soldaten direkt außerhalb des Zimmers vernahm, tat sie ihnen damit wohl kaum einen Gefallen.
    Er verspürte jedoch zum ersten Mal seit Tagen – tatsächlich zum ersten Mal seit Eira – ein heftiges Bedürfnis zu lachen. Er fühlte sich völlig wach und aufmerksam und ungeheuer lebendig und entsetzlich verängstigt. Er bemühte sich angestrengt, nicht zu lachen. Er biss sich lieber auf die Lippen und streckte die Hand aus.
    Irgendwo in der Nähe rief ein Soldat etwas, und ein anderer antwortete – dem Klang nach zu urteilen, war es der förmliche Austausch von Parolen, wie es die Linulariner auf ungesichertem Territorium taten. Maianthes Augen wurden größer, als sie das hörte. Sie warf einen Blick über die Schulter, zögerte einen Augenblick lang und huschte dann quer durchs Zimmer auf Tan zu. Das Buch, das sie so viele Mühen gekostet hatte, hielt sie mit beiden Händen fest umklammert. Kurz glaubte Tan, sie fiele vielleicht in diese Trance der Bewegung und Magie zurück, die sie bis eben im Griff gehalten hatte. Dann jedoch

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