Der Gringo Trail: Ein absurd komischer Road-Trip durch Südamerika (German Edition)
begegnete, den ich mit 10 zuletzt gesehen hatte. „Bist du immer noch ein Kommunist?“, fragte er. War ich mit 10 Jahren schon ein Kommunist gewesen? In Bezug auf seine Frage war ich mir nicht ganz sicher, aber ich hatte immerhin drei Jahre in der vorgeblich sozialistischen Druckerei-Kooperative in Hackney verbracht.
Neben unserer eigenen Zeitung hatten wir Flugblätter für Mieterorganisationen, Schwule, Grüne, Anarchisten, schwule grüne Anarchisten, Hausbesetzer, Hexen, lesbische grüne Hexen, chassidische Juden und so ziemlich jede hier vertretene ethnische Gruppe produziert. 15
---15 In Hackney gab es natürlich jede Menge davon. Im Rahmen einer Studie fand man z.B. an einer örtlichen Schule 170 verschiedene Sprachen unter den Schülern.
Ich saß in endlosen „Gemeindeversammlungen“, in denen die chassidischen Juden totales Chaos stifteten, indem sie Homosexualität als „unnatürlich“ brandmarkten. Schließlich gaben wir den Kampf auf und redeten nicht mehr miteinander.
Ich verbrachte die nächsten paar Jahre mit eintönigen Jobs und wartete auf etwas anderes, dem ich mich verschreiben konnte. Aber da es nur noch um Steuersenkungen und Privatisierungen ging, war Großbritannien in den frühen Neunzigern kein Ort mehr für Idealisten. Wir hatten den kalten Krieg gewonnen und verloren. Der Kommunismus war tot. Ein idiotisches Wahlrecht und die Feigheit der Labour Party sorgten dafür, dass grüne Themen keine Rolle spielten. Die Ecstasy/Rave Szene schien Groß britanniens einzige dynamische Bewegung zu sein, schien aber wenig zu bieten – außer dass man für ein oder zwei Nächte bis zur Bewusstlosigkeit tanzte. Was völlig OK war. Aber es waren verzweifelte Zeiten. Es fehlte etwas.
Meine Freunde machten Karriere, hatten feste Partner, Häuser und Familien. Gerade als alle Leute wussten, dass wir heiraten wollten, trennte ich mich von meiner langjährigen Freundin. Dann heiratete sie ebenfalls. Ich fühlte mich einsam. Ich hielt immer noch mich selbst für normal und die Welt für verrückt – obwohl mir zu meiner Bestürzung allmählich klar wurde, dass meine Freunde das Gegenteil dachten (und zwar in beiderlei Hinsicht). Mich persönlich belastete das immer noch nicht. Ich kannte die Wahrheit. Unsere Welt – unsere westliche Welt – war verrückt. Ich konnte mich nicht für eine Karriere und eine Rente begeistern. Ich brauchte irgendeinen Funken, einen Kreuzzug, ein Ideal. Überall um mich her sah ich eine Gesellschaft, die ihren Sinn für einen gemeinsamen Zweck – ihren Gemeinsinn – verloren hatte. In der die Zukunft nicht weiter reichte als bis zur nächsten Jahresbilanz. Eine „unnatürliche“ Gesellschaft im wörtlichen Sinn: In der die Kinder aufwuchsen, ohne jemals auf einen Baum gestiegen zu sein oder die Sternbilder zu kennen. Eine materialistische Gesellschaft, die den bloßen Sinn für die Freude aus dem Blick verloren hatte, einfach nur am Leben zu sein, und ihn durch Kleiderschränke von IKEA zum selbst zusammenbauen ersetzt hatte. Es war eine beschissene Welt, in der ich keinerlei Sinn oder Richtung finden konnte. Vielleicht würde ich in Südamerika eine finden.
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Die Grenze
In Puno hielten wir nur an, um den nächsten Bus aus der Stadt zu nehmen. Wir fuhren in die bolivische Stadt Copacabana. Bevor wir Peru verließen, konnte ich Melissa endlich dazu überreden, vor einem Schild zu posieren, das „Bimbo“ anpries. „Wenn es denn unbedingt sein muss …“, seufzte sie. Der Bus streifte eine Stunde lang durch die Stadt, um verstreute Fußgänger in Panik zu versetzen und sie zu bewegen, an Bord zu springen, und kehrte dann zur ursprünglichen Haltestelle zurück. (Ich habe diese weitverbreitete Gewohnheit der Dritten Welt nie wirklich verstanden. Wer entscheidet sich denn aus der Laune eines Augenblicks heraus, spontan nach Bolivien zu reisen, nur weil er einen Bus vorbeifahren sieht, der gerade dorthin fährt?) Eine Stunde später fuhren wir in Richtung Bolivien.
Der Grenzübergang war ein ruhiger Fleck am Südufer des Titicacasees. Vom Chaos an der Grenze zwischen Peru und Ecuador war keine Spur. Die Grenzpolizei stempelte unsere Pässe ohne sie anzusehen. Niemand kam angerannt, um uns zu belästigen. Ein freundlicher junger Taxifahrer setzte uns in Copacabana ab und versuchte nicht einmal, einen überhöhten Fahrpreis zu kassieren. Bolivien schien vielversprechend zu sein.
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Copacabana
Copacabana ist eine populäre
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